Vor kurzem habe ich etwas Neues ausprobiert: Ich habe meine Wohnung ausgeräuchert. Mit weißem Salbei bin ich den bösen Geistern zu Leibe gerückt. Ich kroch in die Ecken, streckte mich nach oben, um jeden Winkel zu erwischen, riss Türen und Fenster auf und murmelte: „Alles, was mir nicht dient, darf gehen.“
Nun könnte man meinen, das sei ein höchst ungewöhnliches Verhalten für mich. Schließlich bin ich alles andere als esoterisch veranlagt. Mit Geistern oder negativen Energien habe ich bisher weder geredet noch gegen sie gekämpft. Warum also das Ganze? Ganz einfach: Zum Geburtstag bekam ich ein Bündel weißen Salbei geschenkt. Da ich nicht wusste, was man damit anfängt, googelte ich es und folgte einem YouTube-Video. Und siehe da: Vielleicht hatte ich sogar ein wenig Spaß. Eine schelmische Freude kitzelte in meinen Mundwinkeln, weil ich wusste, dass ich gerade etwas tat, was niemand, nicht einmal ich selbst, von mir erwartet hätte.
Dabei wurde mir eines klar: Es liegt eine besondere Freude darin, wenn man sich überwindet, etwas Neues zu tun und feststellt, dass es einem gefällt. Denn der erste Schritt ist fast immer der schwerste. Im Alltag jedoch greifen wir gern zu Bekanntem. Abends verbringe ich nicht selten eine halbe Stunde damit, über Serien und Filme nachzudenken, nur um schließlich wieder eine alte Lieblingsfolge zu schauen, die ich schon ein Dutzend Mal gesehen habe. Warum? Weil Vertrautheit Sicherheit und Trost bietet. Wiederholung schafft Geborgenheit, Nostalgie, Entspannung. Neue Erfahrungen hingegen sind unvorhersehbar und fordern uns heraus.
Und was hat das mit Theater zu tun? Sehr viel. Auch hier zieht es uns zu den Klassikern: Shakespeare, Goethe, Storm. Titel, die wir kennen, geben uns das Gefühl, vorbereitet zu sein. Selbst wenn jeder Theaterabend einzigartig ist, kennen wir doch die Geschichten und ihre Wirkung. Es wird spannend, herzzerreißend, romantisch oder komisch. Bisher ungehörte Texte hingegen sind wie eine Blindbox: Wir wissen nicht, was uns erwartet.
Genau darin liegt die Besonderheit von Uraufführungen. Für Autor:innen bedeutet es, ihr neuestes Werk erstmals dem Publikum anzuvertrauen. Schauspieler:innen sprechen Sätze, die noch nie zuvor auf einer Bühne erklangen. Und das Publikum betritt unbekanntes Terrain: kein vertrauter Stoff, kein klassischer Plot, keine Gewissheit. Aber gerade das macht den Reiz aus. Wer eine Uraufführung besucht, erlebt den Moment, in dem etwas zum allerersten Mal sichtbar wird. Es braucht Mut, sich darauf einzulassen, doch dieser Mut birgt das Potenzial, mit einem Lächeln nach Hause zu gehen.
Weil ich kürzlich mit einem Salbeibündel hinter meiner Couch hing, möchte ich euch ermutigen: Traut euch, neue Texte zu entdecken. Der Autor Lars Werner beschäftigt sich in seinen Stücken immer wieder mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Themen. Für das Oldenburgische Staatstheater schrieb er das Auftragswerk »Das Ende des Westens«. Nun feiert am 15.11. in der Exhalle die Uraufführung seines neuen Stückes Premiere. »Das Ende des Westens« ist ein Theaterstück über Desinformation als Waffe und darüber, wie Realität sich in Lüge verwandeln lässt. Dabei verschwimmen persönliche Traumata, politische Intrigen und digitale Manipulationen zu einer Geschichte, in der die Frage bleibt: Was ist noch wirklich real? Wer ist noch wirklich real? Auf der Bühne verschränken sich Schauspiel, Sensorik und interaktive Visualisierungen mit zu einer immersiven Erfahrung. Das Publikum ist eingeladen, nicht nur zuzuschauen, sondern sich selbst in den Netzen der digitalen Erzählmaschine wiederzufinden.
Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Oktober 2025/26.(26.09.2025).
DAS ENDE DES WESTENS
Schauspiel von Lars Werner
PREMIERE: Samstag, 15.11. | 20:00 Uhr | Exhalle
Vorstellungen: 22.11., 27.11., 28.11., 4.12., 5.12., 7.12., 11.12., 12.12., 16.12., 18.12., 19.12., 29.12.
Regie: Łukasz Ławicki | Ausstattung: Nina Aufderheide | Dramaturgie: Reinar Ortmann, Pau Hoff
Mit: Konstantin Gries, Tobias Schormann, Katharina Shakina, Tamara Theisen