»Oft bewege ich mich durch die Zeit und verpasse dabei, den Raum wahrzunehmen, der mich umgibt.«

Wo de Tied vergeiht – Vom Vergehen der Zeit

EINE PRODUKTION DES STADT:ENSEMBLES 

»Was bedeutet das Vergehen der Zeit?« – Mit dieser Frage setzt sich das Stadt:Ensemble in dieser Spielzeit auseinander. Zeit ist allgegenwärtig: Sie läuft uns davon, sie zieht sich, wir verlieren sie und hasten ihr hinterher. Der französische Schriftsteller Marcel Proust bemerkte einst:

»Die Zeit, die wir täglich zur Verfügung haben, ist elastisch; unsere eigenen Leidenschaften dehnen sie, die Leidenschaften, die andere für uns empfinden, lassen sie schrumpfen, und die Gewohnheit füllt sie auf.«

In der Produktion »Wo de Tied vergeiht – Vom Vergehen der Zeit« stehen 15 Menschen unterschiedlicher Generationen zwischen 1947 und 2007, die in und um Oldenburg leben, gemeinsam auf der Bühne, um ihre Geschichten zu erzählen. Sie erinnern sich, blicken zurück und in die Zukunft und fragen: Was willst du mit deiner eigenen Zeit anfangen? In der Stückentwicklung verhandelt das Stadt:Ensemble ganz persönliche Lebensfragen, Schicksalsschläge und Sternstunden und macht dabei die alltägliche Parallelität verschiedenster Lebensgeschichten, die sich zeitgleich auf der Welt und in Oldenburg abspielen, sichtbar. 

Mattis Janke, FSJler Kultur in der Theatervermittlung am Oldenburgischen Staatstheater in der Spielzeit 2024/25, begleitet die Produktion als Regieassistent. Er sprach mit den Teilnehmenden über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem Vergehen der Zeit – und darüber, welche Fragen sie in der Theaterarbeit besonders beschäftigen.

Annika Müller

© Stephan Walzl

Wann in deinem Leben spürst du das Vergehen der Zeit?

Bernd            Auf einem 13 stündigen Langstreckenflug – da vergeht sie seeeeehr langsam…

Marlene        Die Tage, Wochen, Monate vergehen so schnell. Die Kinder sind erwachsen, die Enkel schon 16 Jahre alt. Jeder Geburtstag kommt so schnell.

Anton            Ich spüre das Vergehen der Zeit, wenn ich an Zeit denken muss: Termine, die eingehalten werden müssen, rücken schnell näher, Abgabedaten für Schularbeiten sind plötzlich näher als gedacht. Aber auch wenn ich durch Fotoalben blättere und mich an Vergangenes erinnere. 

Norbert         Wenn es mir schlecht geht, wenn ich krank bin. Ich brauche heute viel länger, um wieder auf die Beine zu kommen, um wieder fit zu werden. Und ich bin ungeduldiger geworden. Manche Dinge dauern mir heute zu lange.

Haben die letzten Monate und die Proben dein Verhältnis zu Zeit geändert? Wenn ja, wie?

Marlene        Durch die intensive Beschäftigung mit der Zeit ist mir mein Alter, sowie die mir noch verbleibende Zeit bewusst geworden. Ich bin jetzt 64 Jahre. Wie viel Zeit verbleibt mir noch? Wie will ich diese Zeit für mich nutzen? Was tut mir gut? Ich habe wieder eine realistische Wahrnehmung der Zeit; nichts ist ewig. Nutze deine Zeit. Sie vergeht so schnell.

Norbert         Nein.

Anton            Durch die Proben in den letzten Monaten, vergeht die Zeit plötzlich schneller, weil ich mehr zu tun habe. Zudem mache ich mir neue und mehr Gedanken über Vergänglichkeit von Lebensabschnitten, Beziehungen zu Menschen und zum Leben allgemein.

Gila                    Sie haben vielleicht nicht mein Verhältnis zur Zeit geändert, aber sie haben mir Zeit sehr viel stärker bewusst gemacht. Was ist Zeit eigentlich und wie nehme ich Zeit wahr? Wie lange dauert eine Minute, und existiert Zeit überhaupt? Ist ein Moment kürzer als eine Sekunde? Und was ist eigentlich die Raum-Zeit-Theorie? Interessant war auch zu reflektieren, welche herausragenden politischen und gesellschaftlichen Ereignisse in meinem bisherigen Leben stattgefunden haben, und welche Dinge die jüngeren Teilnehmer: innen unserer Gruppe nur vom Hörensagen – oder überhaupt nicht – kennen.

Bewegst du dich eher durch die Zeit oder durch den Raum?

Bernd                 Eher auf einer Geraden bzw. Linie mit Kurven.

Anton            Oft bewege ich mich durch die Zeit und verpasse dabei, den Raum wahrzunehmen, der mich umgibt.

Gila                    Ich denke, ohne Raum kann ich Zeit nicht wahrnehmen. Nur durch die Bewegung im Raum, merke ich, dass Zeit vergeht. Selbst wenn ich nur irgendwo sitze, spüre, sehe, höre ich ja Dinge. Wobei es da immer noch das Phänomen der inneren Uhr gibt.

Norbert         Ich lebe im Jetzt und im Hier. Wichtig ist der Moment. Das Vergangene hat mich geprägt, hat mich zu dem werden lassen, was ich heute bin. Spielt aber jetzt nur eine untergeordnete Rolle. Auf das Kommende bin ich gespannt und neugierig. Ich lasse es auf mich zukommen und versuche, daraus das Beste für mich zu machen.

Gab es eine Zeit in deinem Leben, in der Zeit keine Rolle gespielt hat?

Bernd                 Ja – immer, wenn ich eins mit mir war – in einem entspannten Zustand.

Marlene        Kindheit und Urlaub.

Anton            Zeit spielt oft keine Rolle, wenn man wenig Verantwortung trägt. Als Kind.

Wofür findest du nie genug Zeit?

Bernd                 Zum Aufräumen.

Marlene        Ich kann mir grundsätzlich für alles Zeit nehmen, da ich Rentnerin bin.  

Norbert         Für meine persönlichen Interessen. Ich war in der Vergangenheit im privaten als auch im beruflichen Umfeld fast immer nur für andere da. Aus eigenem Entschluss, aus Pflichtgefühl oder weil es eben Familie war. Jetzt habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonrennt. Ich bin immer noch neugierig und möchte Dinge ausprobieren, die ich bisher noch nicht gemacht habe. Aber das Alter setzt mir so langsam physische als auch psychische Grenzen.

Anton            Für Zeit für mich alleine ohne dringende Aufgabe, finde ich oft zu wenig Zeit. Auch kann man nicht genug Zeit mit Freunden und Familie verbringen.

Was ist dein Ausgleich um die Endprobenzeit zu überstehen?

Bernd                 Radfahren, Stadtführungen, Gesellschaftsspiele.

Marlene   Sport, Ruhepausen, Natur genießen.

Norbert         Ich brauche keinen Ausgleich. Ich mache mit, weil ich es will, weil es mich reizt, weil es mich weiterbringt. Ja, es wird belastend werden. Aber das habe ich mir ausgesucht und akzeptiere es.

Gila                Das ist einfach: da ich nicht mehr arbeiten muss, kann ich die Intensität der Endprobenzeit so richtig genießen.

„Ich bin von der Zeit gezeichnet.“ Stimmst du zu? Warum?

Bernd                 Na ja – klar. Ich habe mehr Falten im Gesicht, habe einen Bauch und spiele kein Basketball mehr…

Norbert         Ja, natürlich. Jeder von uns hat eine mehr oder weniger prägende Vergangenheit. Im Guten wie im Schlechten. „Gezeichnet sein“ heißt nicht automatisch etwas Schlechtes. Ich kann auch „ausgezeichnet“ worden sein, die Zeit kann mir auch viel Gutes gebracht haben.

Gila                Da sind natürlich ganz klar erstmal die äußeren Zeichen: Haut, Haar, Beweglichkeit. Aber auch im übertragenen Sinn bin ich natürlich gezeichnet, von der Zeit in der ich, als Frau, leben darf. Die Freiheiten und die Möglichkeiten, die ich heutzutage als Frau habe, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, sind mir sehr bewusst.

Anton            Meine Persönlichkeit und Einstellung zu Situationen basiert zu großem Teil auf meinen Erlebnissen. Identifikation und Orientierung sind Folge von Höhen und Tiefen, Fehlern und Glück.

Marlene        Im Laufe der Zeit habe ich viel Lebenserfahrung gesammelt. Ich bin ausgeglichener und weniger stressanfällig. Negativ hat mich die Zeit natürlich durch körperlichen Verschleiß gezeichnet.

Die Fragen stellte Mattis Janke

WO DE TIED VERGEIHT – VOM VERGEHEN DER ZEIT

Premiere: Samstag 30.3. | 18:30 Uhr | Kleines Haus

Weitere Vorstellungen: 6.4., 13.4., 29.4., 3.5., 25.5., 7.6., 15.6., 22.6.

Regie Hanna Puka
Bühne und Kostüme Anai Dittrich
Musik Jens Marnowsky
Licht Arne Waldl
Dramaturgie Annika Müller
Regieassistenz Mattis Janke

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. März 2024/25. (01.03.2025).

What Maisie Knew – A short review

»›Poor little monkey!‹ she at last exclaimed; and the words were an epitaph for the tomb of Maisies childhood.«

One can say that Mr. James in all of his books remains true to his own style of writing as well as to his recurring motives. One either loves or hates it. In merciless literary harshness, Henry James describes in What Maisie knew how a divorce battle is fought over the head of little Maisie. His novel is filled with intrigues and affairs, leaving much unspoken for the reader to think about. It is a truly wonderful intellectual piece of work that makes you reflect and question the reality of a child faced with vanity, greed, weaknesses and longings from the adult world, a world that an adult’s responsibility would be rather to protect a child from. It combines critical thoughts with skilfull side blows directed at the monogamous lifestyle and the ideals of the time responsible for creating a corrupted family environment to a blameless child.

Being uplifting yet unsettling at the same time, reading the book feels hard, comparable to a fight. As the novel is rather slow paced without a lot of tension, it makes it even harder, almost painful to read. It feels wrong to read how Maisie gets abused by her own parents for their selfish purposes. During her young years she is pushed back and forth between parents, stepparents, lovers and governesses. The reader witnesses a story full of hatred, disarray and ultimately the demise of a happy childhood. Furthermore, James leaves the reader to himself with the question what and to which extend Maisie actually understands is happening to her and in her surroundings. He does gives us insights into her intellectual world, and we feel how astonishingly she reflects on the behaviour of others. But we also clearly notice when differences arise between her inner perception and outer occurrences. The story of Maisie is characterised by this inner and outer turmoil. Although ending in her own liberation from the family ties, it unfortunately does not univocally necessitate a better future for her. In the end the reader »still had room for wonder at what Maisie knew«.

In conclusion, What Maisie Knew, like all of Henry James’s novels, is not an easy read. It requires patience and resilience, but for those who endure, every page proves its worth.

Warum das Theater andere Formate finden muss

Welche Orte erschienen euch immer als unzugänglich? Für mich waren es noble Designergeschäfte. Sie schüchtern mich ein, mit ihrem Securitypersonal, geschulten Verkaufspersonal, blitzsauberen Schaufenstern, großen Namen und vor allem Preisen. Nicht dass ich sagen könnte, dass ich jemals in einem Louis Vuitton- oder Gucci-Laden drin gewesen wäre. Nein, ich bin eigentlich nur vorbeigelaufen. Ich habe mich nicht mal getraut diese Geschäfte länger zu betrachten, dennoch waren sie immer da und sie haben mir schon immer irgendwie Angst gemacht. Ein weißer Fleck auf meiner Landkarte, den ich mir einfach nicht erschließen kann. 

Vielleicht ist es mir deshalb wichtig, dass das Theater genau das nicht ist. Es war als Ort für mich immer einladend und freundlich, ein alter Freund. Von klein auf war ich mit meinen Eltern im Theater. Mal am Wochenende, im Urlaub oder zu besonderen Anlässen. Schick angezogen und mit Vorfreude darauf, was passiert, wenn sich der Vorhang öffnet. Und doch, wenn ich am Theaterwall stehe und auf das strahlend weiße Oldenburgische Staatstheater blicke mit seinen Säulen und neoklassischer Optik – verstehe ich, warum für manche das Theater ein unheimlicher Ort ist. Die neobarocke Pracht im Zuschauerraum mit Deckengemälde, die einen riesigen Kronleuchter umrahmen, das geschulte Einlasspersonal, die Stücktitel und Kosten: Das Theater ist ein zugänglicher Raum, aber kein offener. 

Bingo, Death Café, Gesprächsformate, Kavaliersdelikte, Karaoke, Poetry Slams, Open Stage – in der Sparte 7 am Oldenburgischen Staatstheater finden andere Formate statt, die sich der Demokratisierung des Theaters verschrieben haben. Im DigitEX findet sogar im Februar zum ersten Mal ein eSports-Event statt. Ist das noch Theater? 

Ja! Denn natürlich dürfen auch bei diesem Abend im DigitEX keine performativen Elemente fehlen. Publikumsbeteiligung, verschiedene Figuren, Live-Moderation und vieles mehr wird es geben. Dennoch gilt: Das Theater muss sich in seiner Struktur verändern. Das heißt nicht, dass keine Opern oder Theaterstücke mehr gespielt werden sollen, keine Frage. Wir sollten uns nur die Frage stellen, wie wir als Theater offener sein können. Zugängliche Formate, die alle ansprechen und damit die Tür für diejenigen zu öffnen, die sonst verunsichert nur schnell vorbeilaufen. Denn Theater sollte ein Ort für alle sein und kein weißer Fleck auf der Landkarte. 

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Februar 2024/25. (01.02.2025).

Över dat Plattdüütsch snacken 

Zum Internationalen Tag der Muttersprache am 21. Februar

Denn wüllt wi mal nich lang drum rüm snacken… Ist man nur mal in Oldenburg und umzu unterwegs gewesen, kommt man nicht umhin ihr zu begegnen: Der plattdeutschen Sprache. Plattdeutsch, auch Niederdeutsch genannt, ist eine westgermanische Sprache, die vor allem in Norddeutschland, den Niederlanden und Teilen Dänemarks gesprochen wird. Ihre Wurzeln reichen bis ins Altsächsische zurück, und sie blieb – anders als Hochdeutsch – von der Zweiten Lautverschiebung unberührt. Deshalb klingen Wörter wie ›Water‹ (Wasser) oder ›Huus‹ (Haus) vertraut, aber dennoch irgendwie anders.

Im Mittelalter war Plattdeutsch die Lingua franca der Hanse und in großen Teilen Nordeuropas verbreitet. Heute wird es vor allem in ländlichen Regionen Norddeutschlands gesprochen und ist vielerorts ein wichtiger Teil der kulturellen Identität. Worüm snackt wi dar över?

Am 21. Februar 2025 ist der Internationale Tag der Muttersprache. Die Idee, den Internationalen Tag der Muttersprache zu feiern, stammt aus Bangladesch. Sie wurde auf der UNESCO-Generalkonferenz 1999 beschlossen und wird seit dem Jahr 2000 weltweit begangen, da die sprachliche Vielfalt auf der gesamten Welt zunehmend bedroht ist. Immer mehr Sprachen verschwinden und damit auch die Möglichkeit traditionelles Wissen und Kulturen auf nachhaltige Weise zu vermitteln und zu bewahren.

Trotz sinkender Sprecherzahlen gibt es Bemühungen, die niederdeutsche Sprache lebendig zu halten, etwa durch Plattdeutschunterricht an Schulen, Theaterclubs und Radiosendungen. Am Oldenburgischen Staatstheater ist seit 2006 die Niederdeutsche Bühne als plattdeutsche Sparte angesiedelt. Am 19.1.2025 feierte die Produktion »Hector sein Reis or de Söök na’t Glück – Hectors Reise oder die Suche nach dem Glück« unter der Regie von Nils Braun Premiere im Kleinen Haus des Staatstheaters Premiere. Dabei bringt Hector bei seiner Suche nach dem Glück die niederdeutsche Sprache einmal um die Welt nach China, Afrika und Amerika. 

Auch in den Spielclubs des Staatstheaters wird die niederdeutsche Sprache nicht vergessen. So ist auch die Produktion »Vom Vergehen der Zeit – Wo de Tied vergeiht« des Stadt:Ensembles unter der Regie von Nora Hecker und Hanna Puka zweisprachig und erzählt die Lebensgeschichten der Teilnehmenden auf Hoch- und Plattdeutsch. 

So bleibt Plattdeutsch ein wertvoller Schatz norddeutscher Kulturgeschichte. Da bleibt nichts übrig als zu sagen: Wi hebbt di leef, leevst Plattdüütsch!

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Februar 2024/25. (01.02.2025).

Zeit für praktische Solidarität 

Oldenburger Bündnis »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« ruft Kulturinstitutionen, Initiativen und Stadtgesellschaft am 31. Januar zur Handlung auf 

Oldenburg – Am 31. Januar 2025 lädt das Organisationsteam zu einem Abend unter dem Titel »Zeit für praktische Solidarität!« in die Exhalle ein. Die Veranstaltung setzt thematisch den Schwerpunkt auf Vernetzung und Aktion in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Rechtsrucks. Expert:innen aus der Kultur sowie Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen widmen sich der Frage, wie man solidarisch aktiv werden kann. 

Die Veranstaltung richtet sich an Kulturinstitutionen und Initiativen sowie engagierte und interessierte Privatpersonen, sich zu positionieren, zu solidarisieren und in Aktion zu treten. Den Auftakt machen Caroline Mors vom Flüchtlingsrat Niedersachsen und Leonie Jantzer von Medico International, die den politischen Ist-Zustand in Bezug auf Migration und Politik beleuchten. Netzwerkpartner:innen sind eingeladen, Ideen zur praktischen Solidarität zu entwickeln, umzusetzen und in der Exhalle vorzustellen. Die Veranstalter:innen des Abends stellen dazu die Kampagne »Freier Eintritt statt diskriminierende Bezahlkarte« vor. Zum Abschluss wird zu einem offenen Vernetzungstreffen in der Bar der Exhalle eingeladen. Moderiert wird der Abend von der Schauspielerin Veronique Coubard mit begleitenden musikalischen Beiträgen von Elif N. Gökpinar, Saadet Şeker und Mustafa Acar. Tickets für die Veranstaltung sind kostenfrei auf der Website des Staatstheaters reservierbar.

»Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« ist eine Veranstaltung verschiedener Oldenburger Einrichtungen und Initiativen: dem Cine k, dem Arbeitskreis Koloniale Kontinuitäten, der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg sowie der Sparte 7 des Oldenburgischen Staatstheaters.

Über »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft«

Im Frühjahr 2024 fand am Oldenburgischen Staatstheater die Veranstaltung »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft – ›Berliner Erklärung‹ in Oldenburg« statt. Dabei wurden Menschen aus dem Raum Oldenburg und Bremen, die mit dem verschärften rassistischen Diskurs konfrontiert sind, die Möglichkeit gegeben, sich offen zu Wort zu melden. Nun veranstaltet die Gruppe, angesichts der politischen Veränderungen, am 31.01.2025 ihre zweite Veranstaltung zum Thema praktischer Solidarität in der Kulturlandschaft in der Exhalle. 

»Im Grunde muss jede Komponente einzeln für sich bewertet werden.«

Fragen an Anne Horny & Philip Rubner

Annika: Ihr habt euch bei dieser Inszenierung einer neuen Herausforderung gestellt: eine nachhaltige Theaterproduktion. Was gilt es bei einer CO2-neutralen Produktion zu beachten?

Philip: Im besten Falle heißt das, CO2 komplett zu vermeiden oder auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Das ist beim Bühnenbild gar nicht so einfach, weil viele Komponenten wie Beleuchtung, Ton usw. eine Rolle spielen. Im Grunde muss jede Komponente einzeln für sich bewertet werden.

Annika: Könnt ihr konkrete Maßnahmen nennen, die ihr für die Produktion getroffen habt?

Philip: Hinsichtlich des Bühnenbilds haben wir uns in den drei zu gestaltenden Räumen dem Thema Nachhaltigkeit auf drei verschiedene Arten angenähert. Der Show-Raum sollte eine Hochglanz-Ästhetik bekommen und dafür haben wir zunächst verschiedene Materialien verglichen.

Anne: Wir haben nur mit bereits vorhandenem Material gearbeitet und in wenigen Einzelfällen Second Hand von Privatpersonen abgekauft. Zum Beispiel die Quietscheentchen in der Perücke von Calvin-Noel Auer. Wir haben tagelang das Stofflager und den Kostümfundus durchforstet.

Annika: Was waren Schwierigkeiten? Was hat deutlich besser funktioniert als gedacht?

Philip: Das ständige Bewerten der Nachhaltigkeit erfordert einfach mehr Zeit als bei einem normalen Entwurfs- und Umsetzungsprozess. Was deutlich besser funktioniert als gedacht, ist für mich tatsächlich alles, was mit notwendigen Requisiten zu tun hat. Wenn möglich, nehmen wir Sachen aus dem Fundus anstatt neu zu kaufen oder zu produzieren, oder wir kaufen etwas Second Hand dazu.

Anne: Wir sind manchmal daran verzweifelt, genau das zu finden, was uns vorschwebt. Ein Klick bei Amazon wäre da oft einfacher und nervenschonender gewesen. Es war immer wieder nötig, die angestrebte Ästhetik zu verändern und nach neuen Lösungen zu suchen. Ich bin überrascht, dass das geklappt hat, ohne, dass wir qualitative Abstriche machen mussten.

Annika: Gibt es etwas, dass ihr aus dieser Produktion für eure zukünftige Arbeit mitnehmen werdet?

Philip: Ja, auf jeden Fall also ich für mich nehme mit, dass das noch viel Arbeit bedeutet. Es muss auf breiteren Wegen kommuniziert werden, gestreut werden, ausgefertigt werden und ausprobiert werden und weiterhin werden wir an vielen Punkten scheitern, aber für mich steht fest, dass ich große Teile in meine zukünftige Produktion mit ein bringen werde und auch muss, weil es unsere Aufgabe ist, auch als Vorbild für viele Menschen zu dienen und da gehört eine CO2-reduzierte oder eine -neutrale Umgangsweise mit Ressourcen einfach dazu.

Anne: Wir brauchen mehr Entschleunigung insgesamt, mehr zeitlichen Vorlauf, weniger Produktionen und eine gemeinsame Denkweise, die erst entwickelt werden muss. Nachhaltiges Arbeiten ist momentan vor allem eine Frage der Zeit und der menschlichen Kapazitäten. Und: Ein*e Schuhmacher*in am Haus wäre auch toll.

Veröffentlicht: Deutsches Nationaltheater Weimar. Programmheft zu »Die Leiden des jungen Werthers«. (2024).

»Bruchstellen zum Klingen bringen«

Fragen an Ferdinand Schmalz

Annika: Du hast bereits eine ganze Reihe an Theaterstücken geschrieben. Mit Mein Lieblingstier heißt Winter hast du deinen Debütroman veröffentlicht. Was macht für dich als Autor den Unterschied aus, nicht für die Bühne zu schreiben, sondern ein anderes literarisches Genre zu bedienen?

Ferdinand: Ich würde sagen, meine Prosa unterscheidet sich nicht ganz grundsätzlich von meinen Theatertexten. Der Roman zielt auch auf das gesprochene Wort ab allein durch die Rhythmisierung und die eigene Sprachmelodie, die ja nicht unverwandt ist zu meinen dramatischen Texten. Trotzdem hab ich gemerkt, dass die Arbeitsweise eine grundlegend andere ist. In der Prosa hat man einen anderen Spannungsbogen. Was ich selbst schätze an Prosatexten ist, dass sie viel ausufernder sein können als beispielsweise ein Theaterstück, das ja doch immer auf ein paar Grundsituationen und -konflikten beruht. Da kann ein Roman weit mehr ändern, da kann man sich in Details verlieren, Binnenhandlungen aufmachen, Nebenfiguren mal ins Zentrum stellen. Diese Möglichkeiten in der Prosa nochmal weiter auszuscheren hab ich in der Schreibarbeit sehr genossen, vor allem dass man der Dingwelt mal einen größeren Raum geben kann um manchmal wie mit einem Mikroskop an manche Details ranzuzoomen. Solche Beschreibungen sind im Schauspiel oft eher hinderlich, da will man ja auch manches schauen, wie der Name schon sagt, und nicht nur beschrieben kriegen.

Annika: Bei der Entstehung der Inszenierung stand die Frage nach Rolle und Einfluss der Erzählinstanz wiederholt im Raum. Das Regieteam hat sich dafür entschieden, die Erzählinstanz in dem Stück zu personifizieren. Was ist deine Vorstellung von dem Machtverhältnis zwischen der Erzählinstanz und den Figuren?

Ferdinand: Es gab diesen Moment im Schreibprozess, an dem ich auch überlegt hatte, ob ich der Erzählstimme eine Figur zuordnen soll, ob das irgendeine unscheinbare Randfigur, wie Gitti aus Gitti’s Eck ist, die als Barfrau natürlich den auktorialen Überblick über das ganz Geschehen hätte. Mir ging es in dem Roman, aber nochmal stärker als in den Theaterstücken um ein extrem bildhaftes Erzählen. Die auktoriale Erzählstimme funktioniert da vielleicht eher wie der Blick einer Kamera. Es gibt, finde ich, in der österreichischen Literatur diese Tradition einer feinen Blickregie, wie bei Ilse Aichinger, oder Elfriede Jelinek oder auch Josef Winkler, die ähnlich dem Aufbau von Kameraeinstellungen, den imaginären Blick der LeserInnen lenkt von Close Ups über halb Totale und Total bis hin zu wimmelbildartigen Panoramen. Hätte ich gesagt ich binde die Stimme an eine konkrete Figur, hätte diese Perspektive natürlich etwas eingebüßt, weil dann Fragen auftauchen, wie kann sie das so detailliert bildlich beschreiben. Trotzdem gibt es diese Momente in der Erzählung, wo die Figuren einen leichten Anflug von Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie „bloß“ Figuren in einer größeren Geschichte sind, wo sie diesen Blick von außen spüren. Ich finde das zählt zu den spannendsten Fragen, des Schreibens, und speziell des Schreibens fürs Theater, was das denn eigentlich ist eine Figur. Wie geht das, dass diese Rollen immer wieder aus dem toten Papier auferstehen, und auf der Bühne zum Leben erwachen. Schlüpfen SchauspielerInnen in Figuren oder umgekehrt? Dieses quasi-subjethafte an Figuren interessiert mich.

Annika: Würdest du sagen, die Realität erschafft die Erzählung oder die Erzählinstanz erschafft und beeinflusst die Realität?

Ferdinand: Das Problem ist, dass die Wirklichkeit uns immer nur vermittelt erreicht. Das Reale, die sogenannte Außenwelt, nehmen wir immer nur über unsere Sinne wahr und die sind nun mal immer schon gesellschaftlich geschult, das heißt wir greifen unbewusst auf Seh- und Hör- auf Tast- und Riechmuster zurück denen narrative Strukturen zu Grunde liegen. Wirklichkeit entsteht immer erst in Gemeinschaft, im Austausch mit anderen. Und doch lässt sich das Reale nie ganz in diese „Erzählung“ der Wirklichkeit einfügen. Was bleibt ist ein Rest, der sich nie ganz in diese narrativen Muster überführen lässt. Es gibt diese Erzählung von Franz Kafka, „der Bau“, da versucht ein nicht näher definiertes Tierwesen den perfekten Bau zu konstruieren. Es verstopft den Eingang mit Moospolstern, macht alles dicht, aber als es fertig ist hört es ein seltsames Zischen, als müsste irgendwo ein Loch, ein feiner Riss sein, durch den die Luft von draußen strömt, dem es wie manisch auf den Grund gehen will. An diesem Punkt bricht die Erzählung ab. Die Aufgabe einer Kunst die sich der Wirklichkeit verschreibt muss es sein diese Bruchstellen zum Klingen zu bringen. Unsere Seh- und Sprechgewohnheiten destabilisieren, uns klarzumachen, dass wenn wir sehen wir immer mit den Augen anderer sehen, dass wenn wir sprechen, immer mit den Stimmen der Toten sprechen, dass wenn wir denken, immer mit den Hirnen der Anderen denken, damit man vielleicht, da in der künstlichsten Ecke der Kunst, da im Theater hinter Vorhängen und Kulissen, unter zentimeterdicker Schminke und unter Bergen von Requisiten doch einen flüchtigen Blick auf das Reale erhaschen kann. In Riekes Inszenierung von „Oxytocin Baby“ am Wiener Schauspielhaus gibt es einen Moment, in dem man als ZuseherIn, nachdem man über eine Stunde das hyperartifiziell „Puppenspiel“ durch mehrere Passepartouts beobachtet hat, plötzlich einen Blick in die Unterbühne, auf die Podeste der SpielerInnen wirft, in diesem Moment begleitet von einem dröhnenden Rauschen, stellt sich so etwas wie ein Horror des Realen ein.

In deinem Roman beleuchtest du das Verhältnis zum Sterben aus verschiedenen Blickwinkeln. So sind auch der Klimawandel und die Konservierung des Lebens ein Thema. 

Annika: Was würdest du sagen, wie sieht die Zukunft der Menschheit aus?

Ferdinand: Wenn man wie vor kurzem in der Zeitung liest, dass die heute Geborenen eine Lebenserwartung von ca. hundert Jahren haben werden, während in vielen Regionen der Welt die Lebenserwartung seit Jahren stagniert, dann zeichnet sich ein erschreckender Trend ab. Das ewige, oder zumindest überdurchschnittlich lange Leben hängt von der Frage ab, wer es sich leisten kann. Wenn man überlegt, welchen Bedeutungswandel der Tod in den letzten hundert Jahren durchgemacht hat, wird diese Entwicklung auch die nächsten hundert Jahre nicht halt machen. Vieles hängt, denke ich, davon ab, ob wir den Posthumanismus als ein demokratisches Projekt begreifen oder als eine Rakete in der nur für ein Paar wenige selbsternannte Visionäre ein Sitzplatz reserviert ist. Was jedoch die Geschichte gezeigt hat, dass immer dann, wenn wir gedacht haben, wir hätten den Tod erfolgreich aus unseren vitalen Leben verdrängt, er doch immer wieder in monströser Form zurückgekehrt ist.

Veröffentlicht: Schauspiel Frankfurt. Programmheft zu »Mein Lieblingstier heißt Winter«. (2023).

Diskurs über Migration in Niedersachsen

»Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« für praktische Solidarität

In Niedersachsen entfacht die Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete, der sogenannten »SocialCard«, die Diskussion über den Umgang mit Migration. Die neue Regelung, die Sachleistungen und Geldbeträge über eine spezielle Karte regelt, wird von der Landesregierung als Schritt zur besseren Kontrolle und Effizienz im Asylsystem betrachtet. Die Nachteile der Bezahlkarte sind dabei offenkundig: Einschränkung der Selbstbestimmung von Geflüchteten, Stigmatisierung und die Verwehrung grundlegender Rechte. Vor allem Organisationen, die sich für Geflüchtete einsetzen, betonen, dass Integration durch Vertrauen und Teilhabe gefördert werde – nicht durch restriktive Maßnahmen. Während in Europa nach rechts gerückt wird, macht vielen die Verschiebung des Diskurses in Richtung konservativer Restriktionen Sorge. 

Im Frühjahr diesen Jahres fand am Oldenburgischen Staatstheater die Veranstaltung »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft – ›Berliner Erklärung‹ in Oldenburg« statt. Dabei wurden Menschen aus dem Raum Oldenburg und Bremen, die mit dem verschärften rassistischen Diskurs konfrontiert sind, die Möglichkeit gegeben, sich offen zu Wort zu melden. Nun veranstaltet die Gruppe, angesichts der politischen Veränderungen, am 31.01.2025 ihre zweite Veranstaltung zum Thema praktischer Solidarität in der Kulturlandschaft in der Exhalle. Dabei sollen dieses Mal die Kulturinstitutionen das Wort ergreifen, um sich zu positionieren und praktische Solidarität zu üben. 

Ideenschmiede »Rat der 7«

Von der Idee zum Event

Seit Ende August tagt in einem gemütlichen Café am Rande der Baumgartenstraße – im Salon 7 – regelmäßig der »Rat der 7«. Dabei kommen kreative, theateraffine Menschen aus Oldenburg und umzu zusammen, die schon länger Ideen in ihrem Kopf herumtragen oder in der Schublade liegen haben, die sie gerne in Zusammenarbeit mit dem Theater  verwirklichen würden. In 7 Minuten stellen die Teilnehmenden bei Kaffee und Kuchen ihre Ideen, mehr oder weniger geordnet, kurz vor. Das erfordert den Mut und die Bereitschaft, die eigenen Gedanken offen vorzutragen, aber auch die Fähigkeit, anderen zuzuhören und deren Ideen ernst zu nehmen und gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln. So entspringen aus diesen Treffen im Salon 7 neue Projekte, die in der Sparte 7, die sich der Demokratisierung des Theaters verschrieben hat, umgesetzt werden können. 

Einige der bisher vorgestellten Ideen werden schon bald Realität: Einer der Teilnehmenden des allerersten Treffens des »Rat der 7«, entwickelte die Idee eines Feedback-Briefkastens für Sparte 7-Produktionen. Diesen Briefkasten können alle Interessierten schon Anfang des nächsten Jahres in der Exhalle nutzen. 

Auch Simon Fischer kam mit einer Idee zum gemeinsamen Kaffee in der Baumgartenstraße: Ein eSports-Event in der Sparte 7. Ein Mario-Kart-Turnier im DigitEX, bei dem es Live-Kommentatoren, Fanclubs und jede Menge Action gibt. Simon Fischer plant diesen Abend derzeit zusammen mit dem DigitEX und der Sparte 7. Wie wird aus einer Idee beim »Rat der 7« eine Veranstaltung? Simon Fischer erklärt es so: „Aus der Idee selbst musste erst einmal ein ordentliches Konzept geschliffen werden. Die Koordination des DigitEX und die dramaturgische Arbeit aus der Sparte 7 sorgen gerade dafür, dass das Videospiel einiger Leute einen ganzen Abend tragen kann. Das gegenseitige Hinterfragen und Ergänzen hilft, den Blick zu schärfen und seine eigene Meinung zum Spiel zu hinterfragen. Gemeinsam haben wir einen Produktionsplan bis zur Veranstaltung, einen Ablaufplan für den Abend und eine Menge kreative Überlegungen zusammengestellt. Dabei wurde mir wieder einmal klar, wie viel Arbeit, Koordination und Kommunikation in solch einer Abendveranstaltung steckt. Das sorgt aber gleichzeitig für umso mehr Vorfreude.“ Alle Neugierigen und Interessierten können am 25. Februar in der Exhalle gerne mitspielen, mitfiebern und als Publikum die einzelnen Teams bejubeln. Genauere Informationen zur Veranstaltung finden sich auf der Website des Oldenburgischen Staatstheaters. 

Der »Rat der 7« tagt das nächste Mal am 30.01.25 ab 14:30 Uhr für 77 Minuten im Salon 7. Alle, die dort ihre eigenen Ideen vortragen oder verfeinern wollen, sind herzlich willkommen.  Um Anmeldung zur Veranstaltung per E-Mail unter sparte7@staatstheater.de wird gebeten. 

Mythos & Machtstrukturen

Ein Interview mit Katharina Shakina über die Produktion »burnbabyburn«

Herbst 1430. Seit acht Jahrzehnten tobt in Europa ein erbitterter Krieg.
Zwei Drittel Frankreichs sind von den Engländern besetzt. In zwei blutigen Feldzügen führt ein siebzehnjähriges Mädchen Frankreich unter ihrer Fahne in einen verzweifelten Versuch, sich gegen die Besatzer zu wehren.

Die Geschichte von Johanna von Orléans ist legendär: Als Heldin und Retterin Frankreichs gefeiert, endete ihr Leben brutal – verurteilt als Ketzerin und Hexe, verbrannt auf dem Scheiterhaufen.

Nach einer Zeit, in der sie fast in Vergessenheit geriet, kehrte sie im 18. Jahrhundert ins kulturelle Gedächtnis zurück. Doch Johanna war nie nur eine historische Figur: Zu Lebzeiten instrumentalisiert von der Kirche und den königlichen Mächten, wurde sie später zur ideologischen Projektionsfläche. In der Moderne wird sie von unterschiedlichsten Gruppen zur Symbolfigur, zu einem Mythos gemacht. Die Tradierung ihrer Geschichte, wie auch die literarischen und kulturellen Interpretationen, wurden dabei größtenteils von Männern geschrieben.

Doch wie wird eine politische Figur zum Mythos – und letztlich zum politischen Werkzeug?

In einer Welt, die sich lange als „postheroisch“ verstand, erleben autoritäre und gewalttätige Bewegungen heute einen Aufwind. „Starke“ männliche Führerfiguren erfahren neue Heldenverehrung. Das wirft Fragen auf: Wie wird Heldentum heute konstruiert? Johanna wird zur Linse, durch die wir die Schaffung und Dekonstruktion von Heldenbildern, die Notwendigkeit von Widerstand und den Umgang mit globaler Machtpolitik beleuchten. Das Team um Katja Gaudard und Katharina Shakina fragt: Wie schaffen wir in Akzeptanz globaler Abhängigkeiten ein Feld, auf dem soziale, politische Veränderungen möglich werden können, ohne Reproduktion von patriachalem heroischem Pathos und Gewalt? Und was bedeutet Scheitern in diesem Zusammenhang?

Wer Johanna wirklich war, bleibt ein Geheimnis. In »burnbabyburn« von Katharina Shakina und dem crtcl collective wird die Figur und ihre Erzählung mit einer multimedialen Theaterperformance gefeiert und neu verhandelt. Eine fiktive Johanna greift selbst nach den Rollen ihres Dramas. Sie hinterfragt Perspektiven, reflektiert ihre Narrative und schafft durch neue Geschichten ihre eigene Deutungshoheit.

Die Schauspielerin und Performerin Katharina Shakina aus dem Ensemble des Oldenburgischen Staatstheaters nimmt sich auf der Bühne dieser Johanna an:

Annika: Du hast dich im Rahmen der Neustart Kultur-Förderung mit dem Thema »Scheitern« auseinandergesetzt. Was bedeutet Scheitern für dich?

Katharina: Generell – eine Chance, etwas Neues herauszufinden. 
In der Kunst zu scheitern ist etwas anderes, als im Leben und vor allem am Leben zu scheitern.

Über das eigene, als schmerzlich und beschämend empfundene kleine und große Scheitern, sprechen wir nicht gern. Versagen, Misslingen, Fehlschläge und Niederlagen haben in unserer heutigen Gesellschaft, die von Erfolg und Fortschritt bewegt und getrieben wird, kaum einen Platz – es ist „Das große Tabu der Moderne“. 
Hingegen sind Kunst und Scheitern nicht getrennt voneinander zu denken:

Kunst entsteht aus dem Scheitern. Man muss Dinge ausprobieren. Man kann nicht herumsitzen, fürchten, etwas falsch zu machen und sagen „Wenn ich etwas erschaffe, dann gleich ein Meisterwerk“.

Ich denke, etwas Neues und Anderes kann nur entstehen, wenn die erhöhte Gefahr des Scheiterns in Kauf genommen wird.

So lange wie das Scheitern die Möglichkeit einer Wiederholung, eines neuen Anfangs in sich birgt, können wir auch noch im Scheitern versuchen, uns selbst als glückliche Menschen vorzustellen. Wenn wir keine Fehler machen würden, wüssten wir nicht, wie es besser geht. 

Annika: Deine Auseinandersetzung überträgst du auf den Mythos um Johanna von Orléans. Was fasziniert dich an dieser Figur bzw. dieser Erzählung? Siehst du darin eine gewisse Aktualität?

Katharina: Wenn man sich unsere aktuelle Welt so anschaut, kann man vermutlich sagen, dass so einiges darin gescheitert ist. Wie können wir daraus jetzt etwas Positives ableiten? Durch die Kunst versuchen wir, das besser zu verstehen.

Die Welt von Johanna von Orléans ist durchtränkt von Grausamkeiten, wir befinden uns im Hundertjährigen Krieg. Man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet… der Welt geht es schlecht, sie ist gescheitert und dann taucht da dieses Mädchen auf, das nicht die Augen zu macht, das sich nicht verkriecht. Trotz der gescheiterten Lage und der Ungewissheit, wird es aktiv und handelt, rettet alle und gibt wieder Hoffnung. 
Dann wird sie nicht mehr gebraucht und als Hexe stigmatisiert, aber viele Jahrhunderte später dann doch heiliggesprochen.
Später folgten verschiedenste künstlerische Auseinandersetzungen mit der Figur: Schiller mit seinem Drama gleichen Titels; Brecht, der dem Stück eine andere Rahmung gab, sowie zahlreiche Künstler:innen, die Johanna bildnerisch dargestellt oder Statuen geschaffen haben. Heute werden diese Darstellungen in Frankreich als nationale Symbole vom Rassemblement National missbraucht – wir drehen uns irgendwie im Kreis.

Was ist passiert in dieser Zeit? Je nachdem, zu welchem Zweck die Erzählung dient, wird sie angepasst. Das ist schön und gefährlich.

Ich hoffe, dass die Chance dieses Sich-im-Kreis-drehens darin besteht, Qualitäten wie Tapferkeit, Konsequenz und Reflexion hervorzubringen. 

Annika: Du stehst in der Produktion alleine auf der Bühne, arbeitest allerdings mit Audio- und Videomaterial von dir, vielleicht kann man auch sagen, einer vergangenen Version von dir. Was bedeutet es für dich, so mit dir selbst in Kontakt zu treten und zu spielen?

Katharina: Es gibt zwei Funktionen, von mir alleine die Geschichte auf den verschiedenen Ebenen erzählen zu lassen: 1) Ein Mensch besteht aus vielen Farben, vielen Perspektiven – der Vater in mir, der König in mir, der Pfarrer in mir, usw. Quasi ›die Stimmen‹ in meinem Kopf – diesen allen ein explizites Gesicht zu geben, ist ein Versuch (der vielleicht auch zum Scheitern verurteilt ist).
2) Meinem vergangenen Ich zu begegnen, ist auch der Versuch eine bestimmte Wahrnehmung zu erinnern und zu reflektieren. Wie wir etwas wahrnehmen und wie wir etwas erinnern, prägt unsere Gegenwart und wirft immer neue Bilder auf uns als Person – so auch unsere Hauptfigur.
Ich finde es sehr interessant, über diese Form der Erinnerungen immer wieder neue Erkenntnisse über unsere Wahrnehmung zu gewinnen. 
Indem wir in der Gegenwart mit dieser Form spielen, schaffen wir neue Erfahrungen und ebnen so den Weg für ein zukünftiges Spiel, bei dem man dann die bereits vergangenen Erfahrungen wieder neu einflechten kann – es wird nie langweilig.


Annika:
Die Inszenierung »burnbabyburn« ist deine Eigenproduktion, was sind für dich Vorteile oder Herausforderungen an einer eigenen Arbeit?

Katharina: Yes! Die Vorteile sind, dass ich so viel lernen durfte und darf – von und mit meinem wunderbaren Team aus Freund:innen . Ich merke, dass auf diesem Boden von Verbindungen  ein nochmal intensiveres Vertrauen wächst und dadurch ein neues, gemeinsames Weiterdenken stattfinden kann.

Herausfordernd ist definitiv das Zeitmanagement zu meiner eigentlichen Verpflichtung als Ensemblemitglied. Aber ich merke auch, dass es eine Chance gibt, wie beide Bereiche einander bereichern.

Premiere: 17.12.2024

Weitere Aufführungstermine: 19.12.24, 4.1.25, 7.1.25, 9.1.25, 12.1.25

Die Fragen stellte Annika Müller

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Dezember 2024/25. (06.12.2025).