Wie aufmerksam nehmen wir unsere Umwelt wahr? Ich muss gestehen: Mein Blick ist nicht so aufmerksam, wie er sein könnte. In den letzten Wochen fällt mir das besonders auf, weil Katharina Pelosi durch ihre Arbeit am Audiowalk „Zukunftsmusik – wir werden uns erinnert haben“ meine Wahrnehmung der Stadt verändert und durch ihr kritisches Augenmerk schärft.
Ich laufe durch die Stadt und entdecke plötzlich: Am Julius-Mosen-Platz steht eine Büste von Julius Mosen (1803–1867), einem Dramaturgen. Gibt es irgendwo sonst auf der Welt eine Büste eines Dramaturgen oder gar einer Dramaturgin? Schattenrisse, Abbildungen und Büsten von Graf Anton Günther, absolutistischer Landesherr und Reichsgraf von Oldenburg (1603–1667), begleiten mich auf Schritt und Tritt im Innenstadtring. Straßennamen, Plätze, die ich täglich nutze, sei es um Post zu verschicken oder Treffpunkte zu vereinbaren: Wessen Namen tragen sie? Wie und wann sind sie auf die Landkarten gelangt? Manche kenne ich aus meinem Bücherregal: Ibsenstraße, Lafontainestraße, Gebrüder-Grimm-Straße. Ihre Werke erklären ihre Präsenz auf den Straßenschildern. Aber viele andere bleiben mir fremd. Vielleicht liegt es daran, dass man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht oder das Besondere im Alltäglichen.
Nach der öffentlichen Debatte um das Wandbild der Oldenburger Frauen an der Autobahnbrücke in Wechloy gehe ich aufmerksamer durch die Straßen. Ich frage mich: An wen erinnern wir und wie? Und plötzlich sehe ich es überall: Gedenken ist allgegenwärtig. Wir erinnern durch Denkmäler, Gedenktafeln, Kunstinstallationen. Geschichte wird im Stadtraum sichtbar – nicht bloß als Rückblick, sondern als Auseinandersetzung mit der Gegenwart, mit Verantwortung für die Zukunft. Der öffentliche Raum ist für alle zugänglich und spiegelt Machtverhältnisse, Narrative und gesellschaftliche Werte wider. Geschichte ist nicht objektiv. Historikerinnen und Historiker sind sich heute einig: Vergangenheit lässt sich nicht neutral rekonstruieren. Es gibt keine reinen, isolierten Tatsachen in der Geschichtsschreibung. Eine empirisch exakte Geschichtswissenschaft bleibt eine Illusion.
So sitze ich vor einer weiteren Büste auf dem Cäcilienplatz, benannt nach Prinzessin und Großherzogin Cäcilie von Schweden (1807–1844), und blicke auf Helene Lange, in Bronze gegossen für die Ewigkeit. Eine Person, die ich nicht kenne. Und ich denke an eines der bekanntesten Bilder von René Magritte: eine gemalte Pfeife mit dem Schriftzug „Ceci n’est pas une pipe“ – „Das ist keine Pfeife“. So wie Magrittes Pfeife nur ein Bild ist, ein Zeichen, suche ich auch hier die Beziehung zwischen Objekt, Bezeichnung und Repräsentation.
Ebenso wie die Pfeife auf dem Bild keine Pfeife ist, nur ein Abbild von einer, eine semiotische Verschiebung, so suche ich meine Beziehung zwischen dem Objekt, seiner Bezeichnung und seiner Repräsentation.
Wessen Geschichte wird erzählt und wessen nicht? Welche Denkmäler und Namen bleiben? Wer wird im Gedächtnis bleiben, wer hört zu und wer erzählt? Fragen mit denen sich auch der Audiowalk „Zukunftsmusik – wir werden uns erinnert haben“ von Katharina Pelosi auseinandersetzt. Ausgestattet mit Kopfhörern und Stadtplan werden Teilnehmende an Erinnerungsorten in der Innenstadt vorbeigeführt. In einem 70-minütigen Audiowalk führt eine virtuelle Begleiterin durch Oldenburg. Sie blickt auf unsere Gegenwart und fragt sich „Wie erinnern wir uns und an wen?“
Und bevor Sie sich fragen: Ja, ich finde es schön, dass sie da sind, diese Puzzlestücke der Erinnerung. Wenn man durch die Stadt läuft und die Augen offenhält, kann man sich ein Bild zusammensetzen, vielleicht nicht das einer vollständigen Geschichtsschreibung. Aber das einer Stadt, wie sie sich selbst darstellen, erzählen und erinnern will. Ich jedenfalls beginne eine Geschichtsschreibung im Kopf. An wen will ich mich einmal erinnern? Und wofür?
ZUKUNFTSMUSIK – WIR WERDEN UNS ERINNERT HABEN
Audiowalk von Katharina Pelosi
Vorstellungen: 7.6., 12.6., 14.6., 18.6., 19.6., 20.6., 21.6.
Konzept und Realisation: Katharina Pelosi | Visuelles Konzept: Anai Dittrich | Künstlerische Produktionsleitung: Annika Müller | Dramaturgie: Verena Katz
Sprecher:innen: Anna Seeberger, Matthias Kleinert, Malou Walzl
Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Juni 2024/25. (07.06.2025).