»Mein Lieblingstier heißt Winter« von Ferdinand Schmalz 

Österreich: Sommerhitze, Rehragout und eine Leiche – oder eben keine. Der Tiefkühlproduktelieferant Franz Schlicht liefert auch während der Jahrhundert-Hitzewelle, dem „Jahr des Eismanns“, wie er es nennt, gekühlte Produkte an seine Kundschaft aus. So auch an seinen Stammkunden Doktor Schauer, welcher mittlerweile bereits eine ganze Kühltruhe voller Tiefkühl-Rehragout besitzt. Dieser Doktor Schauer hat den Eismann seines Vertrauens für einen speziellen Auftrag auserwählt: Zum Sterben will er sich in seine Tiefkühltruhe legen und – um nicht von seiner Tochter gefunden zu werden – möchte er nach seinem Tiefkühltod von Herr Schlicht abgeholt und an einen anderen Ort transportiert werden. Doch es kommt alles anders, als die Tiefkühltruhe zum vereinbarten Abholtermin leer ist. Franz Schlicht findet zwar jede Menge aufgetautes Rehfleisch vor, aber keine Leiche. Daraufhin beginnt die absurde Suche nach der Tiefkühlleiche, die dem Lieferanten eine seltsame Begegnung nach der anderen beschert. 

2017 nimmt der Theaterwissenschaftler und Dramatiker Ferdinand Schmalz an den Tagen der deutschsprachigen Literatur teil und gewinnt mit einem Auszug aus Mein Lieblingstier heißt Winter den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2021 erscheint sein Debütroman bei S. Fischer. Die Handlung spielt, wie sollte es anders sein, in Wien. – Wo sonst würde man lachen über das Bonmot: Sagt einer: „Weißt, wer g’storben is?“ Antwortet der andere: „Mir is jeder recht.“ 

Schmalz‘ Buch dreht sich um den Moment der absoluten Verzweiflung, den Nullpunkt, den Augenblick des Todes und um dessen Essenz, doch vor allem um die Lächerlichkeit, die mit diesem einhergeht. So meint man eigentlich, nie Todesangst und Rehragout Hand in Hand gehen zu sehen, doch der Autor treibt die Handlung seines Romans mit absurden Spitzen immer weiter voran, es schließen sich dem dazu ein jahrhundertealtes Rindsgulasch, ein Ministerialrat, der Nazi-Weihnachtsbaumschmuck sammelt, korrupte Tatortreiniger, mafiöse Bestattungsunternehmen und vieles mehr an, sodass die (Un- )Endlichkeit des Daseins in all ihren Formen humoristisch und überspitzt den Protagonisten durch die Geschichte leitet. 

Es geht in der Geschichte nicht vornehmlich um Franz Schlicht, welcher – wie bereits sein Name verrät – „gradewegs die Schlichtheit in Person“ ist, vielmehr verhandelt der Roman die menschlichen Abgründe in all ihren Facetten.
Schmalz, als österreichischer Dramatiker bekannt, spielt jedoch nicht nur mit den absurden Handlungssträngen, sondern auch mit einem ungewöhnlichen Sprach- und Schreibstil. Die 

Sprache des Debütromans wirkt unnatürlich und verkürzt, ist an eine dialektanmutende Umgangssprache angelehnt, die von rhythmischen Wiederholungen und plump wirkenden Satzkonstruktionen geprägt ist („Hat sie, die Auswahl bunter Eis am Stiel, es erst mal in die Tiefkühltruhen treuer Kundinnen und Kunden dann geschafft, kann sich der Endverbraucher oder sie, die Endverbraucherin, auch daran abkühlen.“). Zwischen Schachtelsätzen und Ellipsen bleibt man als Leser immer wieder gedanklich hängen. Man stolpert förmlich durch das gesamte Buch, liest Sätze oder ganze Kapitel noch einmal von vorne und benötigt für die kurze Strecke von 190 Seiten unzählige Anläufe. 

Hinzu kommt, dass Schmalz in seinem Werk beinahe vollkommen auf die direkte Rede verzichtet und sich Unterhaltungen zwischen den Figuren in einer mit Konjunktiven und Wiederholungen gespickten Syntax teilweise verlieren („Sie solle sich nur ja nichts darauf einbilden, dass er, wenn er es wollt, könnt er auch jederzeit sie wieder da in diesen Staub, aus dem sie aufgestanden ist, könnt er sie wieder runterzerren.“). Auf diese Weise frustriert der Roman nicht nur über die gesamte Lesedauer hinweg, sondern hinterlässt zum Schluss auch einen faden Beigeschmack, wenn man feststellt, dass die Ideen auf ihre morbide Art zwar ganz originell sind, sich das Lesen insgesamt aber als äußerst mühsam gestaltete und das Durchhalten bis zum Schluss nicht einmal belohnt wird, da der Roman leider nicht mit dem großen Paukenschlag endet, den man sich die ganze Zeit erhofft hat, sondern in einem herkömmlichen Krimifinale verebbt. 

Wenn man die Liebe zu Leichenhaushumor und sprachlich speziellen Büchern hegt, wird man an Ferdinand Schmalz‘ Roman seine Freude haben. Dem Werk ist ein gewisser Charme nicht abzusprechen. Aber man sei gewarnt: Als leichte Lektüre für zwischendurch in der U-Bahn ist es nicht geeignet. 

Tipp: Wer sich für die szenische Umsetzung der Geschichte Mein Lieblingstier heißt Winter interessiert, kann sich auf die Uraufführung im Frankfurter Schauspielhaus am 24. März 2023 freuen. 

Bühne und Umwelt

Theater als Spiegel unserer Beziehung zur Natur

Die desaströse Schieflage eines zunehmend instabilen Klimas, in die sich die Menschheit hineinmanövriert hat, ist spürbar auf der ganzen Welt: Unkontrollierbare Waldbrände, historische Hitzewellen und tödliche Überschwemmungen zeigen die erschütternden Folgen. Die Natur schlägt zurück – und mit ihr wächst der Zorn vieler Menschen, die sich ihrer verletzlichen Beziehung zur Umwelt noch bewusst sind. Sie sind wütend über ein Gesellschaftssystem, das auf einer grenzen- und rücksichtslosen Ausbeutung der Natur basiert. Andere resignieren vor der akuten Bedrohung ihrer eigenen Lebensgrundlage und der Ohnmacht des Individuums. 

Über Jahrhunderte hinweg hat der Mensch seine Identität im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur gefunden. Mitunter wurde die Kultur als Fortsetzung der Natur verstanden, dann wieder als ihr Gegenpol und Mittel, um sie zu beherrschen. Doch in jedem Fall war der Mensch stets Teil beider Welten – der natürlichen ebenso wie der kulturellen. 

Das Theater sieht sich in diesen Tagen mit neuen und alten Fragen konfrontiert: Wie treten wir der Resignation im Angesicht der Klimakatastrophe entgegen? Wie kann man Aktivismus auf der Bühne zeigen und auch in seinen eigenen Strukturen vorleben? Wie stellen wir aus unserer menschlichen Sicht Empathie für unsere Umwelt auf der Bühne dar? Wie rückt man den Menschen aus dem Zentrum der Erzählung? 
Wo die Grenzen der Darstellbarkeit liegen, muss das Theater in jeder Inszenierung neu verhandeln, doch die Natur als Akteur auf der Bühne zu zeigen, ist schwieriger und – im Angesicht der Weltgeschehnisse – aktueller denn je. Wie viel darf man der Natur von unseren Empfindungen und Gedanken überstülpen?

Auch in Oldenburg – einer grünen Stadt mit den Bornhorster Wiesen, der Wallheckenlandschaft und der Haarenniederung – beschäftigt die Theatermachenden diese Problematik. In der Spielzeit 24/25 versucht sich das Theater, diesen und weiteren Fragen zu nähern. In der Uraufführung des Stücks Wald von Miriam V. Lesch am 28.09., erheben sich Stimmen von Bäumen, Pilzen und Tieren, die nach einem bestärkten „Wir“ rufen. Ein politisch-ökologischer Körper, der sich als symbiotisch-kooperativer Akteur versteht und dabei aus dem Hintergrund in die absolute Sichtbarkeit rückt. Der Wald beginnt, sich die Welt zurückzuerobern, und Buche, Steinpilz, Fichte, Butterpilz, Birke und Röhrling stehen dafür auf der Bühne und zersetzen, zerkleinern, filtern und transportieren. Sie erzählen den Zuschauenden die komplexen Abläufe, die in ihnen vorgehen, Tag für Tag und Minute für Minute.

Und auch wenn wir auf der Bühne die Bedürfnisse der Natur lediglich thematisieren können, gibt dies dennoch Denkanstöße, sich zu fragen: Was würde meine Topfpflanze wollen? Würde sie wollen, dass ich sie regelmäßig gieße? Würde sie einen Platz im Garten fordern? Oder würde sie gleich die Entsiegelung der Straße neben dem Garten verlangen, um ungestört wachsen zu können? Es ist sinnvoll, sich diesen Fragen zu stellen, wenn Kultur und Natur ein gemeinsames Bild zeichnen sollen, und wir uns – wenn auch nur um einen Schritt – der Natur annähern und für ihre Bedürfnisse sensibilisieren wollen.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. September 2024/25. (06.09.2024).

Ein Plädoyer fürs Briefeschreiben 

Ein neues Kalenderjahr ist angebrochen und damit die Zeit der guten Vorsätze, die man sich still und heimlich oder auch laut und fordernd setzt. Ob sie gehalten oder verworfen werden, steht jetzt noch in den Sternen. Auch wenn ich nicht von dem Konzept der »guten Vorsätze« überzeugt bin – nicht, weil ich nichts von Ambitionen, Zielen oder Selbstoptimierung halte, sondern weil man sich gute Vorsätze in jedem Jahr zu jeder Zeit setzen kann – will ich einen Vorschlag in den Raum stellen: In diesem Jahr wieder mehr Briefe zu schreiben. Denn meiner Meinung nach fristet der private Brief, der seit der Antike ein essenzieller Teil der Schreibkultur ist, heutzutage immer mehr ein Schattendasein. 

Heute gibt es für den privaten Austausch Smartphones, Mails, Videoanrufe. Dauerhafte Erreichbarkeit ist gewährleistet und soll es auch sein. Immer, überall, kostengünstig und schnell wollen wir unsere Mitmenschen erreichen. Effektiv und flüchtig bleiben wir in Kontakt mit anderen. Vielleicht fasziniert mich auch deshalb die Form des Briefes.

Denn ohne Briefe, hätten meine Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und viele Generationen davor ihre Beziehungen über weite Distanz nicht aufrechterhalten können und hätten vielleicht andere Lebenswege eingeschlagen. Der Austausch von Wissen über Landesgrenzen hinweg hätte ohne Briefe nicht stattfinden können. Wissenschaftliche Entdeckungen wie die von Isaac Newton oder Charles Darwin wurden oft in Briefen dokumentiert und diskutiert. Soldaten im Krieg schrieben an ihre Familien und hielten so die Verbindung nach Hause, ohne diese Möglichkeit des Austauschs wären oft Trost und Hoffnung ausgeblieben.

Der Brief liegt in seiner Form zwischen Monolog, Gespräch, Alltagskommunikation, Literatur, Kulturkritik und philosophischer Reflexion. Außerdem ist er ein emanzipatorisches Medium: Im 18. Jahrhundert begann der Brief für Frauen als Möglichkeit der Kommunikation sowie Diskursteilnahme zugänglich zu werden und veränderte ihre Lebensrealität nachhaltig. Infolge der Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert und dem Bestreben nach weiblicher Bildung entwickelte sich eine starke weiblich geprägte Briefkultur. Weil das Medium Brief Freiraum für Selbstbestimmung und Selbstreflektion in sich vereint, war es eine Errungenschaft und ein Gewinn für die weibliche Emanzipation. So singen auch die Figuren in der musikalischen Komödie »Stolz und Vorurteil* (*oder so)« von Isobel McArthur nach Jane Austen über das Schreiben und lesen ihre Briefe an ihre Schwestern, um ihr Liebesleben und die schwierigen Beziehungsgeflechte zu besprechen. 

Worauf ich hinaus will? Briefe sind bleibend – selbst heute noch stößt man in Archiven oder auf Dachböden auf alte Briefe, die Einblicke in vergangene Zeiten gewähren. Ohne sie wären viele Details des Alltags und der Gedankenwelt vergangener Generationen verloren. Daher mein Plädoyer, trotz steigender Portopreise und fehlender Zeit im Alltagsstress: Schreibt doch mal wieder einen Brief. Nehmt euch Zeit, Worte zu wählen, die bleiben. Denn einen schönen Brief zu bekommen, macht glücklich und vielleicht landet euer Brief eines Tages auf einem Dachboden und erzählt noch in Jahrzehnten eine Geschichte, die kein Chatverlauf jemals bewahren könnte.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Januar 2024/25. (04.01.2025)

Advent, Glühwein und Artikel 1

Der Dezember und die Verantwortung für die Menschenrechte

Verkaufsstände, Tannengrün, Feststimmung: Auf den Straßen und Plätzen der Oldenburger Innenstadt stehen die Weihnachtsmarktbuden und es duftet nach Glühwein, Lángos und gebrannten Mandeln. Die Schaufenster sind mit Lichtern, Sternen und Weihnachtsbaumkugeln dekoriert, ein dickbäuchiger Weihnachtsmann steht auf dem Schlossplatz und die Einwohner:innen aus Oldenburg und umzu zieht es zum Geschenkbummel in die Geschäfte. Einhellige Harmonie in der niedersächsischen Stadt. Es ist keine Frage: Wir lassen es uns gut gehen in der Weihnachtszeit. Es ist die Familienzeit des Jahres. Wir kuscheln uns ein, gehen ins Theater und belohnen uns für ein Jahr, das wir bald hinter uns lassen werden. Was erwartet uns noch im Dezember? Was könnte wichtiger sein als der Weihnachtstrubel?  

Ein Tag, der aus diesem Monat gleichermaßen heraussticht und in ihm untergeht ist der 10. Dezember. An diesem Tag jährt sich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen beschlossen, ist sie ein grundlegender Meilenstein für die weltweite Anerkennung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Was bedeuten Menschenrechte heute, in einer globalisierten und kapitalistischen Welt, in der der Respekt vor der Würde des Menschen oft auf dem Prüfstand steht?

Die Erklärung hat 30 Artikel in denen politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie Bürgerrechte festgelegt sind. Grundlage der Erklärung ist die Feststellung, dass alle Menschen, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder Religion „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ sind. 

Der Dezember ist ein Monat, den man besonders genießen kann, wenn man das Glück hat, in einer privilegierten Situation zu sein. Jeden Tag unser Adventskalendertürchen öffnen, während andere nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen sollen. In unserem Alltag ist es leicht zu vergessen, dass Chancengleichheit und Menschenrechte für jeden – in unserer Gesellschaft wie auf der gesamten Welt – wichtige und schöne Konzepte, aber nicht Lebensrealität sind. 

Wie können wir diesem Tag gerecht werden? Während wir es uns in der winterlichen Gemütlichkeit gut gehen lassen, wäre es ein Zeichen der Solidarität, uns bewusst zu machen, dass Menschenrechte keine abstrakten Prinzipien, sondern reale Ansprüche sind – Ansprüche, die täglich verteidigt und verwirklicht werden müssen. Inmitten des weihnachtlichen Lichterglanzes können wir uns fragen: Was kann ich persönlich tun, um diese Werte zu leben?

Vielleicht liegt die Antwort darin, über den Tellerrand zu schauen, aktiv zu werden und praktische Solidarität zu leben. Es geht nicht darum, auf festliche Freuden zu verzichten, sondern darum, an die zu denken, die diese Möglichkeiten nicht haben und aktiv zu werden. Denn am Ende sind Menschenrechte kein einmaliges Geschenk – sie sind eine Verpflichtung, die wir jeden Tag neu annehmen müssen.

Wer sich dafür interessiert, wie man praktische Solidarität im Alltag leben kann, kann sich bei der Veranstaltung der Gruppe »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« am 31.01.2025 in der Exhalle informieren. 

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Dezember 2024/25. (06.12.2024).

Vom Vergehen der analogen Zeit 

In Oldenburg hat sich der Herbst ausgebreitet. Während es Anfang Oktober mittags noch warm und sonnig war, zogen morgens schon Nebelschwaden durch die Straßen und der Atem bildete in der Luft kleine weiße Wölkchen. Nun sind die Blätter bereits gelb und braun und segeln von den Bäumen. 

Wie immer im Herbst – wenn es beginnt nach Staub zu riechen, weil man die Schals, Mützen und Pullover vom Vorjahr aus dem Schrank kramt – denke ich an mein Lieblingsgedicht Corona von Paul Celan: 

„Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.“

Und ich denke an die Erzählungen meiner Großmutter über ihre Kindheit. Eine Zeit, die so weit weg zu sein scheint, dass ich nicht begreifen kann, dass diese nur einige Jahrzehnte und nicht Jahrhunderte zurückliegt. Ihre Geschichten, wie sie als Kind die Kohlen den Berg hinaufschleppen musste, wie sie nur mit Essensmarken im Dorfladen Lebensmittel bekamen und wie beschwerlich und trotz allem besser war. 

Und wie ich daran denke, wie einfach mein Leben heute ist. Aufgewachsen in der Generation mit den ersten Samsung Smartphones mit Touchdisplay, dauerhafter Internetverbindung und einer Welt an Informationen und Unterhaltung dauerhaft an den Fingerspitzen. Natürlich zahlen die „Digital Natives“ dafür auch einen Preis: dauerhafte Erreichbarkeit, verkürzte Aufmerksamkeitsspannen, digitale Abhängigkeit. 

Häufig wird die jüngere Generation mit Vorwürfen konfrontiert, dass sie nicht mehr wisse, wie man eine Landkarte liest, was ein Walkman ist oder was man mit einer Kassette und einem Bleistift macht. Während sich Vertreter der älteren Generation nostalgisch daran erinnern, wie sie ihre Diplomarbeit mit einer Schreibmaschine getippt haben und ihre Lieblingssongs mit dem Kassettenrecorder aufnehmen mussten und dabei der leise Vorwurf mitschwingt, warum die jüngere Generation diese Zeit nicht vermisst. Woher oder warum man etwas wissen soll, das obsolet geworden ist und was einem keiner mehr beigebracht hat, ist dabei die eine Frage – doch noch viel dringlicher ist die danach, wie sich die jüngere Generation romantisiert an eine Zeit erinnern soll, die sie nicht erlebt hat oder nur noch erahnen kann. 

Ich möchte keine Lanze für dauerhafte Überwachung und Datensammlung oder gar für einen gläsernen Menschen brechen. Nur gefällt es mir gut, dass ich im Auto nicht mit einem Atlas hantieren oder zum Anrufen an einem Wählscheibentelefon drehen muss. Was die ältere und die jüngere Generation vereint, ist vielleicht ihr Wunsch nach Zeiteffizienz und dennoch Ausgleich, so dass man nicht verloren geht – weder zwischen den technischen Möglichkeiten noch in ihnen. 

Mit der Thematik von verlorener, gesparter, erlebter und geschenkter Zeit. beschäftigen sich in dieser Spielzeit auch das Schauspiel- sowie das Stadt:Ensemble im Oldenburgischen Staatstheater. Im Familienstück »Momo« nach dem gleichnamigen Roman von Michael Ende wird der Sehnsucht nach der analogen Zeit vor Smartphones, Social Media und Selbstoptimierung nachgespürt. Die Stückentwicklung des Stadt:Ensembles »Vom Vergehen der Zeit« von Nora Hecker und Hanna Puka beschäftigt sich mit dem Erleben von Zeit und wie man sich zu ihr verhält und bringt dabei persönliche Geschichten aus der Stadtgesellschaft Oldenburgs auf die Bühne. 

Wie die Zeit vergeht, bleibt letztlich immer eine Frage der Perspektive. Zwischen Analogem und Digitalem liegt nicht nur der technische Fortschritt, sondern der Wunsch, der uns alle verbindet: in einer sich ständig beschleunigenden Welt nicht die wirklich wichtigen Dinge aus dem Blick zu verlieren.

So endet auch Celans Gedicht mit den Worten:

„Es ist Zeit, […]
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.“

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. November 2024/25. (01.11.2024).

„Sie ist nicht mehr wegzudenken“ 

Von Algorithmen zu Applaus – Die Rolle der KI im Theater

In einer Ära, in der Technologie in nahezu jeden Aspekt unseres Lebens eingreift, dringt die Künstliche Intelligenz (KI) auch auf die Bühne. Während die Theatertradition tief in menschlicher Kreativität und emotionaler Ausdruckskraft verwurzelt ist, beginnt die KI eine neue Dimension in die Kunstform zu bringen. Von der Entwicklung innovativer technologischer Schnittstellen bis hin zur Generierung von Bildern, Musik, Szenarien und Charakteren verändert die KI die Art und Weise, wie Theater gemacht und erlebt wird. Ein Tool, das Möglichkeitsräume eröffnet und gleichermaßen Angst erzeugt und polarisiert. Die EU verabschiedete das weltweit erste Gesetz zur KI-Regulierung, während bei vielen Menschen Fragen auftauchen: Werden wir Menschen für die Produktion von Kunst noch gebraucht? Werden Texte zu uninspiriertem Einheitsbrei, da niemand mehr selbst schreibt? Wird Originalität in der Zukunft noch wertgeschätzt oder geht ein Handwerk verloren? Es scheint, Mensch und Maschine stehen einander erstmal als Oppositionen gegenüber. 

In der Uraufführung des Stücks 2048 von Lorenz Langenegger wird ein Blick auf die faszinierenden Möglichkeiten und Herausforderungen geworfen, die KI im modernen Theater mit sich bringt, und erkundet, wie Algorithmen vom Hintergrund in den Mittelpunkt der Handlung gerückt und die KI sogar zum Hauptakteur werden kann. Das Stück behandelt die Geschichte der KI von der Vergangenheit bis in die Zukunft, ins Jahr 2048. Dazu stehen die ChatGPT-Versionen Curie, Davinci und Ada (gespielt von Tamara Theisen, Klaas Schramm und Julia Friede) auf der Bühne. Das Stück fragt danach, wie viel Menschlichkeit in der KI und wie viel Technik im Menschen steckt. In einer Welt, in der die Grenzen zunehmend verschwimmen und Trennlinien schwerer zu ziehen sind, fordert das Ensemble das Publikum mit dem Satz „Genießen Sie die Simulation“ dazu auf, auch die eigene Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen. Doch die KI ist nicht nur Thema des Stücks. In der Inszenierung experimentiert das Regieteam live auf der Bühne mit einer KI zur Bildgenerierung und Texteingabe, mit der die Darstellenden auf der Bühne agieren. 

In der Art und Weise, wie wir mit der KI (zusammen)arbeiten, verändert sich auch der Blick, den wir auf die technische Erweiterung künstlerischer Arbeit haben. Können wir der KI nicht nur gegenüberstehen, sondern auf Augenhöhe begegnen? Kann sie ein Partner in Crime, eine Komplizin sein?

Björn Lengers von den Cyber Räubern, die Teil des künstlerisch-technischen Kreativteams sind, antwortet auf die Frage: „Neuronale Netze sind natürlich in erster Linie für einen bestimmten Zweck geschaffen und insofern auch Werkzeuge. Sie sind aber neue Werkzeuge mit teilweise unbekannten Eigenschaften und Eigenarten und durchaus auch einem Eigenleben. Das erforschen wir mit künstlerischen Mitteln – mit einem gewissen Respekt, denn in 2048 nutzen wir KI in Echtzeit, quasi als Mit-Protagonistin auf der Bühne. Alle Bilder entstehen im Moment, begleiten, kommentieren, interpretieren oder dienen der Bühnenhandlung. Sie überraschen und faszinieren uns immer wieder, und aus diesen Proben entstehen so immer neue Wege gemeinsamer Kreativität. Ich nehme das so wahr, dass wir das künstlerische Team um ein weiteres Mitglied erweitern, und im Theater funktioniert sowas gut, weil jede Inszenierung eine Team-Anstrengung ist.“ Łukasz Ławicki, der das Digitex koordiniert, sagt ohne zu zögern „Sie ist nicht mehr wegzudenken.“ 

Die zentrale Frage lautet nicht, ob KI in der Kunst und im Theater eine Rolle spielen wird, sondern wie wir diese Rolle gestalten wollen. Wird sie uns dabei helfen, unsere kreativen Grenzen zu erweitern, oder uns in eine technologische Abhängigkeit führen? Eines steht schon jetzt fest: Künstliche Intelligenz hat die Bühne betreten, und es scheint, als ob sie nicht so schnell wieder gehen wird. Sie ist ein Teil unserer Erzählungen und der Art und Weise, wie wir Kunst erleben. Doch wie jede technische Revolution liegt auch hier die Entscheidung bei uns, wie wir mit dieser Komplizin umgehen wollen.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Oktober 2024/25. (05.10.2024).