Vom Vergehen der analogen Zeit 

In Oldenburg hat sich der Herbst ausgebreitet. Während es Anfang Oktober mittags noch warm und sonnig war, zogen morgens schon Nebelschwaden durch die Straßen und der Atem bildete in der Luft kleine weiße Wölkchen. Nun sind die Blätter bereits gelb und braun und segeln von den Bäumen. 

Wie immer im Herbst – wenn es beginnt nach Staub zu riechen, weil man die Schals, Mützen und Pullover vom Vorjahr aus dem Schrank kramt – denke ich an mein Lieblingsgedicht Corona von Paul Celan: 

„Aus der Hand frißt der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.“

Und ich denke an die Erzählungen meiner Großmutter über ihre Kindheit. Eine Zeit, die so weit weg zu sein scheint, dass ich nicht begreifen kann, dass diese nur einige Jahrzehnte und nicht Jahrhunderte zurückliegt. Ihre Geschichten, wie sie als Kind die Kohlen den Berg hinaufschleppen musste, wie sie nur mit Essensmarken im Dorfladen Lebensmittel bekamen und wie beschwerlich und trotz allem besser war. 

Und wie ich daran denke, wie einfach mein Leben heute ist. Aufgewachsen in der Generation mit den ersten Samsung Smartphones mit Touchdisplay, dauerhafter Internetverbindung und einer Welt an Informationen und Unterhaltung dauerhaft an den Fingerspitzen. Natürlich zahlen die „Digital Natives“ dafür auch einen Preis: dauerhafte Erreichbarkeit, verkürzte Aufmerksamkeitsspannen, digitale Abhängigkeit. 

Häufig wird die jüngere Generation mit Vorwürfen konfrontiert, dass sie nicht mehr wisse, wie man eine Landkarte liest, was ein Walkman ist oder was man mit einer Kassette und einem Bleistift macht. Während sich Vertreter der älteren Generation nostalgisch daran erinnern, wie sie ihre Diplomarbeit mit einer Schreibmaschine getippt haben und ihre Lieblingssongs mit dem Kassettenrecorder aufnehmen mussten und dabei der leise Vorwurf mitschwingt, warum die jüngere Generation diese Zeit nicht vermisst. Woher oder warum man etwas wissen soll, das obsolet geworden ist und was einem keiner mehr beigebracht hat, ist dabei die eine Frage – doch noch viel dringlicher ist die danach, wie sich die jüngere Generation romantisiert an eine Zeit erinnern soll, die sie nicht erlebt hat oder nur noch erahnen kann. 

Ich möchte keine Lanze für dauerhafte Überwachung und Datensammlung oder gar für einen gläsernen Menschen brechen. Nur gefällt es mir gut, dass ich im Auto nicht mit einem Atlas hantieren oder zum Anrufen an einem Wählscheibentelefon drehen muss. Was die ältere und die jüngere Generation vereint, ist vielleicht ihr Wunsch nach Zeiteffizienz und dennoch Ausgleich, so dass man nicht verloren geht – weder zwischen den technischen Möglichkeiten noch in ihnen. 

Mit der Thematik von verlorener, gesparter, erlebter und geschenkter Zeit. beschäftigen sich in dieser Spielzeit auch das Schauspiel- sowie das Stadt:Ensemble im Oldenburgischen Staatstheater. Im Familienstück »Momo« nach dem gleichnamigen Roman von Michael Ende wird der Sehnsucht nach der analogen Zeit vor Smartphones, Social Media und Selbstoptimierung nachgespürt. Die Stückentwicklung des Stadt:Ensembles »Vom Vergehen der Zeit« von Nora Hecker und Hanna Puka beschäftigt sich mit dem Erleben von Zeit und wie man sich zu ihr verhält und bringt dabei persönliche Geschichten aus der Stadtgesellschaft Oldenburgs auf die Bühne. 

Wie die Zeit vergeht, bleibt letztlich immer eine Frage der Perspektive. Zwischen Analogem und Digitalem liegt nicht nur der technische Fortschritt, sondern der Wunsch, der uns alle verbindet: in einer sich ständig beschleunigenden Welt nicht die wirklich wichtigen Dinge aus dem Blick zu verlieren.

So endet auch Celans Gedicht mit den Worten:

„Es ist Zeit, […]
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.“

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. November 2024/25. (01.11.2024).

„Sie ist nicht mehr wegzudenken“ 

Von Algorithmen zu Applaus – Die Rolle der KI im Theater

In einer Ära, in der Technologie in nahezu jeden Aspekt unseres Lebens eingreift, dringt die Künstliche Intelligenz (KI) auch auf die Bühne. Während die Theatertradition tief in menschlicher Kreativität und emotionaler Ausdruckskraft verwurzelt ist, beginnt die KI eine neue Dimension in die Kunstform zu bringen. Von der Entwicklung innovativer technologischer Schnittstellen bis hin zur Generierung von Bildern, Musik, Szenarien und Charakteren verändert die KI die Art und Weise, wie Theater gemacht und erlebt wird. Ein Tool, das Möglichkeitsräume eröffnet und gleichermaßen Angst erzeugt und polarisiert. Die EU verabschiedete das weltweit erste Gesetz zur KI-Regulierung, während bei vielen Menschen Fragen auftauchen: Werden wir Menschen für die Produktion von Kunst noch gebraucht? Werden Texte zu uninspiriertem Einheitsbrei, da niemand mehr selbst schreibt? Wird Originalität in der Zukunft noch wertgeschätzt oder geht ein Handwerk verloren? Es scheint, Mensch und Maschine stehen einander erstmal als Oppositionen gegenüber. 

In der Uraufführung des Stücks 2048 von Lorenz Langenegger wird ein Blick auf die faszinierenden Möglichkeiten und Herausforderungen geworfen, die KI im modernen Theater mit sich bringt, und erkundet, wie Algorithmen vom Hintergrund in den Mittelpunkt der Handlung gerückt und die KI sogar zum Hauptakteur werden kann. Das Stück behandelt die Geschichte der KI von der Vergangenheit bis in die Zukunft, ins Jahr 2048. Dazu stehen die ChatGPT-Versionen Curie, Davinci und Ada (gespielt von Tamara Theisen, Klaas Schramm und Julia Friede) auf der Bühne. Das Stück fragt danach, wie viel Menschlichkeit in der KI und wie viel Technik im Menschen steckt. In einer Welt, in der die Grenzen zunehmend verschwimmen und Trennlinien schwerer zu ziehen sind, fordert das Ensemble das Publikum mit dem Satz „Genießen Sie die Simulation“ dazu auf, auch die eigene Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen. Doch die KI ist nicht nur Thema des Stücks. In der Inszenierung experimentiert das Regieteam live auf der Bühne mit einer KI zur Bildgenerierung und Texteingabe, mit der die Darstellenden auf der Bühne agieren. 

In der Art und Weise, wie wir mit der KI (zusammen)arbeiten, verändert sich auch der Blick, den wir auf die technische Erweiterung künstlerischer Arbeit haben. Können wir der KI nicht nur gegenüberstehen, sondern auf Augenhöhe begegnen? Kann sie ein Partner in Crime, eine Komplizin sein?

Björn Lengers von den Cyber Räubern, die Teil des künstlerisch-technischen Kreativteams sind, antwortet auf die Frage: „Neuronale Netze sind natürlich in erster Linie für einen bestimmten Zweck geschaffen und insofern auch Werkzeuge. Sie sind aber neue Werkzeuge mit teilweise unbekannten Eigenschaften und Eigenarten und durchaus auch einem Eigenleben. Das erforschen wir mit künstlerischen Mitteln – mit einem gewissen Respekt, denn in 2048 nutzen wir KI in Echtzeit, quasi als Mit-Protagonistin auf der Bühne. Alle Bilder entstehen im Moment, begleiten, kommentieren, interpretieren oder dienen der Bühnenhandlung. Sie überraschen und faszinieren uns immer wieder, und aus diesen Proben entstehen so immer neue Wege gemeinsamer Kreativität. Ich nehme das so wahr, dass wir das künstlerische Team um ein weiteres Mitglied erweitern, und im Theater funktioniert sowas gut, weil jede Inszenierung eine Team-Anstrengung ist.“ Łukasz Ławicki, der das Digitex koordiniert, sagt ohne zu zögern „Sie ist nicht mehr wegzudenken.“ 

Die zentrale Frage lautet nicht, ob KI in der Kunst und im Theater eine Rolle spielen wird, sondern wie wir diese Rolle gestalten wollen. Wird sie uns dabei helfen, unsere kreativen Grenzen zu erweitern, oder uns in eine technologische Abhängigkeit führen? Eines steht schon jetzt fest: Künstliche Intelligenz hat die Bühne betreten, und es scheint, als ob sie nicht so schnell wieder gehen wird. Sie ist ein Teil unserer Erzählungen und der Art und Weise, wie wir Kunst erleben. Doch wie jede technische Revolution liegt auch hier die Entscheidung bei uns, wie wir mit dieser Komplizin umgehen wollen.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Oktober 2024/25. (05.10.2024).