Zeit für praktische Solidarität 

Oldenburger Bündnis »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« ruft Kulturinstitutionen, Initiativen und Stadtgesellschaft am 31. Januar zur Handlung auf 

Oldenburg – Am 31. Januar 2025 lädt das Organisationsteam zu einem Abend unter dem Titel »Zeit für praktische Solidarität!« in die Exhalle ein. Die Veranstaltung setzt thematisch den Schwerpunkt auf Vernetzung und Aktion in Zeiten des politischen und gesellschaftlichen Rechtsrucks. Expert:innen aus der Kultur sowie Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen widmen sich der Frage, wie man solidarisch aktiv werden kann. 

Die Veranstaltung richtet sich an Kulturinstitutionen und Initiativen sowie engagierte und interessierte Privatpersonen, sich zu positionieren, zu solidarisieren und in Aktion zu treten. Den Auftakt machen Caroline Mors vom Flüchtlingsrat Niedersachsen und Leonie Jantzer von Medico International, die den politischen Ist-Zustand in Bezug auf Migration und Politik beleuchten. Netzwerkpartner:innen sind eingeladen, Ideen zur praktischen Solidarität zu entwickeln, umzusetzen und in der Exhalle vorzustellen. Die Veranstalter:innen des Abends stellen dazu die Kampagne »Freier Eintritt statt diskriminierende Bezahlkarte« vor. Zum Abschluss wird zu einem offenen Vernetzungstreffen in der Bar der Exhalle eingeladen. Moderiert wird der Abend von der Schauspielerin Veronique Coubard mit begleitenden musikalischen Beiträgen von Elif N. Gökpinar, Saadet Şeker und Mustafa Acar. Tickets für die Veranstaltung sind kostenfrei auf der Website des Staatstheaters reservierbar.

»Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« ist eine Veranstaltung verschiedener Oldenburger Einrichtungen und Initiativen: dem Cine k, dem Arbeitskreis Koloniale Kontinuitäten, der Ev.-Luth. Kirche in Oldenburg sowie der Sparte 7 des Oldenburgischen Staatstheaters.

Über »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft«

Im Frühjahr 2024 fand am Oldenburgischen Staatstheater die Veranstaltung »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft – ›Berliner Erklärung‹ in Oldenburg« statt. Dabei wurden Menschen aus dem Raum Oldenburg und Bremen, die mit dem verschärften rassistischen Diskurs konfrontiert sind, die Möglichkeit gegeben, sich offen zu Wort zu melden. Nun veranstaltet die Gruppe, angesichts der politischen Veränderungen, am 31.01.2025 ihre zweite Veranstaltung zum Thema praktischer Solidarität in der Kulturlandschaft in der Exhalle. 

»Im Grunde muss jede Komponente einzeln für sich bewertet werden.«

Fragen an Anne Horny & Philip Rubner

Annika: Ihr habt euch bei dieser Inszenierung einer neuen Herausforderung gestellt: eine nachhaltige Theaterproduktion. Was gilt es bei einer CO2-neutralen Produktion zu beachten?

Philip: Im besten Falle heißt das, CO2 komplett zu vermeiden oder auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Das ist beim Bühnenbild gar nicht so einfach, weil viele Komponenten wie Beleuchtung, Ton usw. eine Rolle spielen. Im Grunde muss jede Komponente einzeln für sich bewertet werden.

Annika: Könnt ihr konkrete Maßnahmen nennen, die ihr für die Produktion getroffen habt?

Philip: Hinsichtlich des Bühnenbilds haben wir uns in den drei zu gestaltenden Räumen dem Thema Nachhaltigkeit auf drei verschiedene Arten angenähert. Der Show-Raum sollte eine Hochglanz-Ästhetik bekommen und dafür haben wir zunächst verschiedene Materialien verglichen.

Anne: Wir haben nur mit bereits vorhandenem Material gearbeitet und in wenigen Einzelfällen Second Hand von Privatpersonen abgekauft. Zum Beispiel die Quietscheentchen in der Perücke von Calvin-Noel Auer. Wir haben tagelang das Stofflager und den Kostümfundus durchforstet.

Annika: Was waren Schwierigkeiten? Was hat deutlich besser funktioniert als gedacht?

Philip: Das ständige Bewerten der Nachhaltigkeit erfordert einfach mehr Zeit als bei einem normalen Entwurfs- und Umsetzungsprozess. Was deutlich besser funktioniert als gedacht, ist für mich tatsächlich alles, was mit notwendigen Requisiten zu tun hat. Wenn möglich, nehmen wir Sachen aus dem Fundus anstatt neu zu kaufen oder zu produzieren, oder wir kaufen etwas Second Hand dazu.

Anne: Wir sind manchmal daran verzweifelt, genau das zu finden, was uns vorschwebt. Ein Klick bei Amazon wäre da oft einfacher und nervenschonender gewesen. Es war immer wieder nötig, die angestrebte Ästhetik zu verändern und nach neuen Lösungen zu suchen. Ich bin überrascht, dass das geklappt hat, ohne, dass wir qualitative Abstriche machen mussten.

Annika: Gibt es etwas, dass ihr aus dieser Produktion für eure zukünftige Arbeit mitnehmen werdet?

Philip: Ja, auf jeden Fall also ich für mich nehme mit, dass das noch viel Arbeit bedeutet. Es muss auf breiteren Wegen kommuniziert werden, gestreut werden, ausgefertigt werden und ausprobiert werden und weiterhin werden wir an vielen Punkten scheitern, aber für mich steht fest, dass ich große Teile in meine zukünftige Produktion mit ein bringen werde und auch muss, weil es unsere Aufgabe ist, auch als Vorbild für viele Menschen zu dienen und da gehört eine CO2-reduzierte oder eine -neutrale Umgangsweise mit Ressourcen einfach dazu.

Anne: Wir brauchen mehr Entschleunigung insgesamt, mehr zeitlichen Vorlauf, weniger Produktionen und eine gemeinsame Denkweise, die erst entwickelt werden muss. Nachhaltiges Arbeiten ist momentan vor allem eine Frage der Zeit und der menschlichen Kapazitäten. Und: Ein*e Schuhmacher*in am Haus wäre auch toll.

Veröffentlicht: Deutsches Nationaltheater Weimar. Programmheft zu »Die Leiden des jungen Werthers«. (2024).

»Bruchstellen zum Klingen bringen«

Fragen an Ferdinand Schmalz

Annika: Du hast bereits eine ganze Reihe an Theaterstücken geschrieben. Mit Mein Lieblingstier heißt Winter hast du deinen Debütroman veröffentlicht. Was macht für dich als Autor den Unterschied aus, nicht für die Bühne zu schreiben, sondern ein anderes literarisches Genre zu bedienen?

Ferdinand: Ich würde sagen, meine Prosa unterscheidet sich nicht ganz grundsätzlich von meinen Theatertexten. Der Roman zielt auch auf das gesprochene Wort ab allein durch die Rhythmisierung und die eigene Sprachmelodie, die ja nicht unverwandt ist zu meinen dramatischen Texten. Trotzdem hab ich gemerkt, dass die Arbeitsweise eine grundlegend andere ist. In der Prosa hat man einen anderen Spannungsbogen. Was ich selbst schätze an Prosatexten ist, dass sie viel ausufernder sein können als beispielsweise ein Theaterstück, das ja doch immer auf ein paar Grundsituationen und -konflikten beruht. Da kann ein Roman weit mehr ändern, da kann man sich in Details verlieren, Binnenhandlungen aufmachen, Nebenfiguren mal ins Zentrum stellen. Diese Möglichkeiten in der Prosa nochmal weiter auszuscheren hab ich in der Schreibarbeit sehr genossen, vor allem dass man der Dingwelt mal einen größeren Raum geben kann um manchmal wie mit einem Mikroskop an manche Details ranzuzoomen. Solche Beschreibungen sind im Schauspiel oft eher hinderlich, da will man ja auch manches schauen, wie der Name schon sagt, und nicht nur beschrieben kriegen.

Annika: Bei der Entstehung der Inszenierung stand die Frage nach Rolle und Einfluss der Erzählinstanz wiederholt im Raum. Das Regieteam hat sich dafür entschieden, die Erzählinstanz in dem Stück zu personifizieren. Was ist deine Vorstellung von dem Machtverhältnis zwischen der Erzählinstanz und den Figuren?

Ferdinand: Es gab diesen Moment im Schreibprozess, an dem ich auch überlegt hatte, ob ich der Erzählstimme eine Figur zuordnen soll, ob das irgendeine unscheinbare Randfigur, wie Gitti aus Gitti’s Eck ist, die als Barfrau natürlich den auktorialen Überblick über das ganz Geschehen hätte. Mir ging es in dem Roman, aber nochmal stärker als in den Theaterstücken um ein extrem bildhaftes Erzählen. Die auktoriale Erzählstimme funktioniert da vielleicht eher wie der Blick einer Kamera. Es gibt, finde ich, in der österreichischen Literatur diese Tradition einer feinen Blickregie, wie bei Ilse Aichinger, oder Elfriede Jelinek oder auch Josef Winkler, die ähnlich dem Aufbau von Kameraeinstellungen, den imaginären Blick der LeserInnen lenkt von Close Ups über halb Totale und Total bis hin zu wimmelbildartigen Panoramen. Hätte ich gesagt ich binde die Stimme an eine konkrete Figur, hätte diese Perspektive natürlich etwas eingebüßt, weil dann Fragen auftauchen, wie kann sie das so detailliert bildlich beschreiben. Trotzdem gibt es diese Momente in der Erzählung, wo die Figuren einen leichten Anflug von Bewusstsein dafür entwickeln, dass sie „bloß“ Figuren in einer größeren Geschichte sind, wo sie diesen Blick von außen spüren. Ich finde das zählt zu den spannendsten Fragen, des Schreibens, und speziell des Schreibens fürs Theater, was das denn eigentlich ist eine Figur. Wie geht das, dass diese Rollen immer wieder aus dem toten Papier auferstehen, und auf der Bühne zum Leben erwachen. Schlüpfen SchauspielerInnen in Figuren oder umgekehrt? Dieses quasi-subjethafte an Figuren interessiert mich.

Annika: Würdest du sagen, die Realität erschafft die Erzählung oder die Erzählinstanz erschafft und beeinflusst die Realität?

Ferdinand: Das Problem ist, dass die Wirklichkeit uns immer nur vermittelt erreicht. Das Reale, die sogenannte Außenwelt, nehmen wir immer nur über unsere Sinne wahr und die sind nun mal immer schon gesellschaftlich geschult, das heißt wir greifen unbewusst auf Seh- und Hör- auf Tast- und Riechmuster zurück denen narrative Strukturen zu Grunde liegen. Wirklichkeit entsteht immer erst in Gemeinschaft, im Austausch mit anderen. Und doch lässt sich das Reale nie ganz in diese „Erzählung“ der Wirklichkeit einfügen. Was bleibt ist ein Rest, der sich nie ganz in diese narrativen Muster überführen lässt. Es gibt diese Erzählung von Franz Kafka, „der Bau“, da versucht ein nicht näher definiertes Tierwesen den perfekten Bau zu konstruieren. Es verstopft den Eingang mit Moospolstern, macht alles dicht, aber als es fertig ist hört es ein seltsames Zischen, als müsste irgendwo ein Loch, ein feiner Riss sein, durch den die Luft von draußen strömt, dem es wie manisch auf den Grund gehen will. An diesem Punkt bricht die Erzählung ab. Die Aufgabe einer Kunst die sich der Wirklichkeit verschreibt muss es sein diese Bruchstellen zum Klingen zu bringen. Unsere Seh- und Sprechgewohnheiten destabilisieren, uns klarzumachen, dass wenn wir sehen wir immer mit den Augen anderer sehen, dass wenn wir sprechen, immer mit den Stimmen der Toten sprechen, dass wenn wir denken, immer mit den Hirnen der Anderen denken, damit man vielleicht, da in der künstlichsten Ecke der Kunst, da im Theater hinter Vorhängen und Kulissen, unter zentimeterdicker Schminke und unter Bergen von Requisiten doch einen flüchtigen Blick auf das Reale erhaschen kann. In Riekes Inszenierung von „Oxytocin Baby“ am Wiener Schauspielhaus gibt es einen Moment, in dem man als ZuseherIn, nachdem man über eine Stunde das hyperartifiziell „Puppenspiel“ durch mehrere Passepartouts beobachtet hat, plötzlich einen Blick in die Unterbühne, auf die Podeste der SpielerInnen wirft, in diesem Moment begleitet von einem dröhnenden Rauschen, stellt sich so etwas wie ein Horror des Realen ein.

In deinem Roman beleuchtest du das Verhältnis zum Sterben aus verschiedenen Blickwinkeln. So sind auch der Klimawandel und die Konservierung des Lebens ein Thema. 

Annika: Was würdest du sagen, wie sieht die Zukunft der Menschheit aus?

Ferdinand: Wenn man wie vor kurzem in der Zeitung liest, dass die heute Geborenen eine Lebenserwartung von ca. hundert Jahren haben werden, während in vielen Regionen der Welt die Lebenserwartung seit Jahren stagniert, dann zeichnet sich ein erschreckender Trend ab. Das ewige, oder zumindest überdurchschnittlich lange Leben hängt von der Frage ab, wer es sich leisten kann. Wenn man überlegt, welchen Bedeutungswandel der Tod in den letzten hundert Jahren durchgemacht hat, wird diese Entwicklung auch die nächsten hundert Jahre nicht halt machen. Vieles hängt, denke ich, davon ab, ob wir den Posthumanismus als ein demokratisches Projekt begreifen oder als eine Rakete in der nur für ein Paar wenige selbsternannte Visionäre ein Sitzplatz reserviert ist. Was jedoch die Geschichte gezeigt hat, dass immer dann, wenn wir gedacht haben, wir hätten den Tod erfolgreich aus unseren vitalen Leben verdrängt, er doch immer wieder in monströser Form zurückgekehrt ist.

Veröffentlicht: Schauspiel Frankfurt. Programmheft zu »Mein Lieblingstier heißt Winter«. (2023).

Diskurs über Migration in Niedersachsen

»Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« für praktische Solidarität

In Niedersachsen entfacht die Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete, der sogenannten »SocialCard«, die Diskussion über den Umgang mit Migration. Die neue Regelung, die Sachleistungen und Geldbeträge über eine spezielle Karte regelt, wird von der Landesregierung als Schritt zur besseren Kontrolle und Effizienz im Asylsystem betrachtet. Die Nachteile der Bezahlkarte sind dabei offenkundig: Einschränkung der Selbstbestimmung von Geflüchteten, Stigmatisierung und die Verwehrung grundlegender Rechte. Vor allem Organisationen, die sich für Geflüchtete einsetzen, betonen, dass Integration durch Vertrauen und Teilhabe gefördert werde – nicht durch restriktive Maßnahmen. Während in Europa nach rechts gerückt wird, macht vielen die Verschiebung des Diskurses in Richtung konservativer Restriktionen Sorge. 

Im Frühjahr diesen Jahres fand am Oldenburgischen Staatstheater die Veranstaltung »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft – ›Berliner Erklärung‹ in Oldenburg« statt. Dabei wurden Menschen aus dem Raum Oldenburg und Bremen, die mit dem verschärften rassistischen Diskurs konfrontiert sind, die Möglichkeit gegeben, sich offen zu Wort zu melden. Nun veranstaltet die Gruppe, angesichts der politischen Veränderungen, am 31.01.2025 ihre zweite Veranstaltung zum Thema praktischer Solidarität in der Kulturlandschaft in der Exhalle. Dabei sollen dieses Mal die Kulturinstitutionen das Wort ergreifen, um sich zu positionieren und praktische Solidarität zu üben. 

Ideenschmiede »Rat der 7«

Von der Idee zum Event

Seit Ende August tagt in einem gemütlichen Café am Rande der Baumgartenstraße – im Salon 7 – regelmäßig der »Rat der 7«. Dabei kommen kreative, theateraffine Menschen aus Oldenburg und umzu zusammen, die schon länger Ideen in ihrem Kopf herumtragen oder in der Schublade liegen haben, die sie gerne in Zusammenarbeit mit dem Theater  verwirklichen würden. In 7 Minuten stellen die Teilnehmenden bei Kaffee und Kuchen ihre Ideen, mehr oder weniger geordnet, kurz vor. Das erfordert den Mut und die Bereitschaft, die eigenen Gedanken offen vorzutragen, aber auch die Fähigkeit, anderen zuzuhören und deren Ideen ernst zu nehmen und gemeinsam mit ihnen weiterzuentwickeln. So entspringen aus diesen Treffen im Salon 7 neue Projekte, die in der Sparte 7, die sich der Demokratisierung des Theaters verschrieben hat, umgesetzt werden können. 

Einige der bisher vorgestellten Ideen werden schon bald Realität: Einer der Teilnehmenden des allerersten Treffens des »Rat der 7«, entwickelte die Idee eines Feedback-Briefkastens für Sparte 7-Produktionen. Diesen Briefkasten können alle Interessierten schon Anfang des nächsten Jahres in der Exhalle nutzen. 

Auch Simon Fischer kam mit einer Idee zum gemeinsamen Kaffee in der Baumgartenstraße: Ein eSports-Event in der Sparte 7. Ein Mario-Kart-Turnier im DigitEX, bei dem es Live-Kommentatoren, Fanclubs und jede Menge Action gibt. Simon Fischer plant diesen Abend derzeit zusammen mit dem DigitEX und der Sparte 7. Wie wird aus einer Idee beim »Rat der 7« eine Veranstaltung? Simon Fischer erklärt es so: „Aus der Idee selbst musste erst einmal ein ordentliches Konzept geschliffen werden. Die Koordination des DigitEX und die dramaturgische Arbeit aus der Sparte 7 sorgen gerade dafür, dass das Videospiel einiger Leute einen ganzen Abend tragen kann. Das gegenseitige Hinterfragen und Ergänzen hilft, den Blick zu schärfen und seine eigene Meinung zum Spiel zu hinterfragen. Gemeinsam haben wir einen Produktionsplan bis zur Veranstaltung, einen Ablaufplan für den Abend und eine Menge kreative Überlegungen zusammengestellt. Dabei wurde mir wieder einmal klar, wie viel Arbeit, Koordination und Kommunikation in solch einer Abendveranstaltung steckt. Das sorgt aber gleichzeitig für umso mehr Vorfreude.“ Alle Neugierigen und Interessierten können am 25. Februar in der Exhalle gerne mitspielen, mitfiebern und als Publikum die einzelnen Teams bejubeln. Genauere Informationen zur Veranstaltung finden sich auf der Website des Oldenburgischen Staatstheaters. 

Der »Rat der 7« tagt das nächste Mal am 30.01.25 ab 14:30 Uhr für 77 Minuten im Salon 7. Alle, die dort ihre eigenen Ideen vortragen oder verfeinern wollen, sind herzlich willkommen.  Um Anmeldung zur Veranstaltung per E-Mail unter sparte7@staatstheater.de wird gebeten. 

Mythos & Machtstrukturen

Ein Interview mit Katharina Shakina über die Produktion »burnbabyburn«

Herbst 1430. Seit acht Jahrzehnten tobt in Europa ein erbitterter Krieg.
Zwei Drittel Frankreichs sind von den Engländern besetzt. In zwei blutigen Feldzügen führt ein siebzehnjähriges Mädchen Frankreich unter ihrer Fahne in einen verzweifelten Versuch, sich gegen die Besatzer zu wehren.

Die Geschichte von Johanna von Orléans ist legendär: Als Heldin und Retterin Frankreichs gefeiert, endete ihr Leben brutal – verurteilt als Ketzerin und Hexe, verbrannt auf dem Scheiterhaufen.

Nach einer Zeit, in der sie fast in Vergessenheit geriet, kehrte sie im 18. Jahrhundert ins kulturelle Gedächtnis zurück. Doch Johanna war nie nur eine historische Figur: Zu Lebzeiten instrumentalisiert von der Kirche und den königlichen Mächten, wurde sie später zur ideologischen Projektionsfläche. In der Moderne wird sie von unterschiedlichsten Gruppen zur Symbolfigur, zu einem Mythos gemacht. Die Tradierung ihrer Geschichte, wie auch die literarischen und kulturellen Interpretationen, wurden dabei größtenteils von Männern geschrieben.

Doch wie wird eine politische Figur zum Mythos – und letztlich zum politischen Werkzeug?

In einer Welt, die sich lange als „postheroisch“ verstand, erleben autoritäre und gewalttätige Bewegungen heute einen Aufwind. „Starke“ männliche Führerfiguren erfahren neue Heldenverehrung. Das wirft Fragen auf: Wie wird Heldentum heute konstruiert? Johanna wird zur Linse, durch die wir die Schaffung und Dekonstruktion von Heldenbildern, die Notwendigkeit von Widerstand und den Umgang mit globaler Machtpolitik beleuchten. Das Team um Katja Gaudard und Katharina Shakina fragt: Wie schaffen wir in Akzeptanz globaler Abhängigkeiten ein Feld, auf dem soziale, politische Veränderungen möglich werden können, ohne Reproduktion von patriachalem heroischem Pathos und Gewalt? Und was bedeutet Scheitern in diesem Zusammenhang?

Wer Johanna wirklich war, bleibt ein Geheimnis. In »burnbabyburn« von Katharina Shakina und dem crtcl collective wird die Figur und ihre Erzählung mit einer multimedialen Theaterperformance gefeiert und neu verhandelt. Eine fiktive Johanna greift selbst nach den Rollen ihres Dramas. Sie hinterfragt Perspektiven, reflektiert ihre Narrative und schafft durch neue Geschichten ihre eigene Deutungshoheit.

Die Schauspielerin und Performerin Katharina Shakina aus dem Ensemble des Oldenburgischen Staatstheaters nimmt sich auf der Bühne dieser Johanna an:

Annika: Du hast dich im Rahmen der Neustart Kultur-Förderung mit dem Thema »Scheitern« auseinandergesetzt. Was bedeutet Scheitern für dich?

Katharina: Generell – eine Chance, etwas Neues herauszufinden. 
In der Kunst zu scheitern ist etwas anderes, als im Leben und vor allem am Leben zu scheitern.

Über das eigene, als schmerzlich und beschämend empfundene kleine und große Scheitern, sprechen wir nicht gern. Versagen, Misslingen, Fehlschläge und Niederlagen haben in unserer heutigen Gesellschaft, die von Erfolg und Fortschritt bewegt und getrieben wird, kaum einen Platz – es ist „Das große Tabu der Moderne“. 
Hingegen sind Kunst und Scheitern nicht getrennt voneinander zu denken:

Kunst entsteht aus dem Scheitern. Man muss Dinge ausprobieren. Man kann nicht herumsitzen, fürchten, etwas falsch zu machen und sagen „Wenn ich etwas erschaffe, dann gleich ein Meisterwerk“.

Ich denke, etwas Neues und Anderes kann nur entstehen, wenn die erhöhte Gefahr des Scheiterns in Kauf genommen wird.

So lange wie das Scheitern die Möglichkeit einer Wiederholung, eines neuen Anfangs in sich birgt, können wir auch noch im Scheitern versuchen, uns selbst als glückliche Menschen vorzustellen. Wenn wir keine Fehler machen würden, wüssten wir nicht, wie es besser geht. 

Annika: Deine Auseinandersetzung überträgst du auf den Mythos um Johanna von Orléans. Was fasziniert dich an dieser Figur bzw. dieser Erzählung? Siehst du darin eine gewisse Aktualität?

Katharina: Wenn man sich unsere aktuelle Welt so anschaut, kann man vermutlich sagen, dass so einiges darin gescheitert ist. Wie können wir daraus jetzt etwas Positives ableiten? Durch die Kunst versuchen wir, das besser zu verstehen.

Die Welt von Johanna von Orléans ist durchtränkt von Grausamkeiten, wir befinden uns im Hundertjährigen Krieg. Man muss sich mal vorstellen, was das bedeutet… der Welt geht es schlecht, sie ist gescheitert und dann taucht da dieses Mädchen auf, das nicht die Augen zu macht, das sich nicht verkriecht. Trotz der gescheiterten Lage und der Ungewissheit, wird es aktiv und handelt, rettet alle und gibt wieder Hoffnung. 
Dann wird sie nicht mehr gebraucht und als Hexe stigmatisiert, aber viele Jahrhunderte später dann doch heiliggesprochen.
Später folgten verschiedenste künstlerische Auseinandersetzungen mit der Figur: Schiller mit seinem Drama gleichen Titels; Brecht, der dem Stück eine andere Rahmung gab, sowie zahlreiche Künstler:innen, die Johanna bildnerisch dargestellt oder Statuen geschaffen haben. Heute werden diese Darstellungen in Frankreich als nationale Symbole vom Rassemblement National missbraucht – wir drehen uns irgendwie im Kreis.

Was ist passiert in dieser Zeit? Je nachdem, zu welchem Zweck die Erzählung dient, wird sie angepasst. Das ist schön und gefährlich.

Ich hoffe, dass die Chance dieses Sich-im-Kreis-drehens darin besteht, Qualitäten wie Tapferkeit, Konsequenz und Reflexion hervorzubringen. 

Annika: Du stehst in der Produktion alleine auf der Bühne, arbeitest allerdings mit Audio- und Videomaterial von dir, vielleicht kann man auch sagen, einer vergangenen Version von dir. Was bedeutet es für dich, so mit dir selbst in Kontakt zu treten und zu spielen?

Katharina: Es gibt zwei Funktionen, von mir alleine die Geschichte auf den verschiedenen Ebenen erzählen zu lassen: 1) Ein Mensch besteht aus vielen Farben, vielen Perspektiven – der Vater in mir, der König in mir, der Pfarrer in mir, usw. Quasi ›die Stimmen‹ in meinem Kopf – diesen allen ein explizites Gesicht zu geben, ist ein Versuch (der vielleicht auch zum Scheitern verurteilt ist).
2) Meinem vergangenen Ich zu begegnen, ist auch der Versuch eine bestimmte Wahrnehmung zu erinnern und zu reflektieren. Wie wir etwas wahrnehmen und wie wir etwas erinnern, prägt unsere Gegenwart und wirft immer neue Bilder auf uns als Person – so auch unsere Hauptfigur.
Ich finde es sehr interessant, über diese Form der Erinnerungen immer wieder neue Erkenntnisse über unsere Wahrnehmung zu gewinnen. 
Indem wir in der Gegenwart mit dieser Form spielen, schaffen wir neue Erfahrungen und ebnen so den Weg für ein zukünftiges Spiel, bei dem man dann die bereits vergangenen Erfahrungen wieder neu einflechten kann – es wird nie langweilig.


Annika:
Die Inszenierung »burnbabyburn« ist deine Eigenproduktion, was sind für dich Vorteile oder Herausforderungen an einer eigenen Arbeit?

Katharina: Yes! Die Vorteile sind, dass ich so viel lernen durfte und darf – von und mit meinem wunderbaren Team aus Freund:innen . Ich merke, dass auf diesem Boden von Verbindungen  ein nochmal intensiveres Vertrauen wächst und dadurch ein neues, gemeinsames Weiterdenken stattfinden kann.

Herausfordernd ist definitiv das Zeitmanagement zu meiner eigentlichen Verpflichtung als Ensemblemitglied. Aber ich merke auch, dass es eine Chance gibt, wie beide Bereiche einander bereichern.

Premiere: 17.12.2024

Weitere Aufführungstermine: 19.12.24, 4.1.25, 7.1.25, 9.1.25, 12.1.25

Die Fragen stellte Annika Müller

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Dezember 2024/25. (06.12.2025).


»Mein Lieblingstier heißt Winter« von Ferdinand Schmalz 

Österreich: Sommerhitze, Rehragout und eine Leiche – oder eben keine. Der Tiefkühlproduktelieferant Franz Schlicht liefert auch während der Jahrhundert-Hitzewelle, dem „Jahr des Eismanns“, wie er es nennt, gekühlte Produkte an seine Kundschaft aus. So auch an seinen Stammkunden Doktor Schauer, welcher mittlerweile bereits eine ganze Kühltruhe voller Tiefkühl-Rehragout besitzt. Dieser Doktor Schauer hat den Eismann seines Vertrauens für einen speziellen Auftrag auserwählt: Zum Sterben will er sich in seine Tiefkühltruhe legen und – um nicht von seiner Tochter gefunden zu werden – möchte er nach seinem Tiefkühltod von Herr Schlicht abgeholt und an einen anderen Ort transportiert werden. Doch es kommt alles anders, als die Tiefkühltruhe zum vereinbarten Abholtermin leer ist. Franz Schlicht findet zwar jede Menge aufgetautes Rehfleisch vor, aber keine Leiche. Daraufhin beginnt die absurde Suche nach der Tiefkühlleiche, die dem Lieferanten eine seltsame Begegnung nach der anderen beschert. 

2017 nimmt der Theaterwissenschaftler und Dramatiker Ferdinand Schmalz an den Tagen der deutschsprachigen Literatur teil und gewinnt mit einem Auszug aus Mein Lieblingstier heißt Winter den Ingeborg-Bachmann-Preis. 2021 erscheint sein Debütroman bei S. Fischer. Die Handlung spielt, wie sollte es anders sein, in Wien. – Wo sonst würde man lachen über das Bonmot: Sagt einer: „Weißt, wer g’storben is?“ Antwortet der andere: „Mir is jeder recht.“ 

Schmalz‘ Buch dreht sich um den Moment der absoluten Verzweiflung, den Nullpunkt, den Augenblick des Todes und um dessen Essenz, doch vor allem um die Lächerlichkeit, die mit diesem einhergeht. So meint man eigentlich, nie Todesangst und Rehragout Hand in Hand gehen zu sehen, doch der Autor treibt die Handlung seines Romans mit absurden Spitzen immer weiter voran, es schließen sich dem dazu ein jahrhundertealtes Rindsgulasch, ein Ministerialrat, der Nazi-Weihnachtsbaumschmuck sammelt, korrupte Tatortreiniger, mafiöse Bestattungsunternehmen und vieles mehr an, sodass die (Un- )Endlichkeit des Daseins in all ihren Formen humoristisch und überspitzt den Protagonisten durch die Geschichte leitet. 

Es geht in der Geschichte nicht vornehmlich um Franz Schlicht, welcher – wie bereits sein Name verrät – „gradewegs die Schlichtheit in Person“ ist, vielmehr verhandelt der Roman die menschlichen Abgründe in all ihren Facetten.
Schmalz, als österreichischer Dramatiker bekannt, spielt jedoch nicht nur mit den absurden Handlungssträngen, sondern auch mit einem ungewöhnlichen Sprach- und Schreibstil. Die 

Sprache des Debütromans wirkt unnatürlich und verkürzt, ist an eine dialektanmutende Umgangssprache angelehnt, die von rhythmischen Wiederholungen und plump wirkenden Satzkonstruktionen geprägt ist („Hat sie, die Auswahl bunter Eis am Stiel, es erst mal in die Tiefkühltruhen treuer Kundinnen und Kunden dann geschafft, kann sich der Endverbraucher oder sie, die Endverbraucherin, auch daran abkühlen.“). Zwischen Schachtelsätzen und Ellipsen bleibt man als Leser immer wieder gedanklich hängen. Man stolpert förmlich durch das gesamte Buch, liest Sätze oder ganze Kapitel noch einmal von vorne und benötigt für die kurze Strecke von 190 Seiten unzählige Anläufe. 

Hinzu kommt, dass Schmalz in seinem Werk beinahe vollkommen auf die direkte Rede verzichtet und sich Unterhaltungen zwischen den Figuren in einer mit Konjunktiven und Wiederholungen gespickten Syntax teilweise verlieren („Sie solle sich nur ja nichts darauf einbilden, dass er, wenn er es wollt, könnt er auch jederzeit sie wieder da in diesen Staub, aus dem sie aufgestanden ist, könnt er sie wieder runterzerren.“). Auf diese Weise frustriert der Roman nicht nur über die gesamte Lesedauer hinweg, sondern hinterlässt zum Schluss auch einen faden Beigeschmack, wenn man feststellt, dass die Ideen auf ihre morbide Art zwar ganz originell sind, sich das Lesen insgesamt aber als äußerst mühsam gestaltete und das Durchhalten bis zum Schluss nicht einmal belohnt wird, da der Roman leider nicht mit dem großen Paukenschlag endet, den man sich die ganze Zeit erhofft hat, sondern in einem herkömmlichen Krimifinale verebbt. 

Wenn man die Liebe zu Leichenhaushumor und sprachlich speziellen Büchern hegt, wird man an Ferdinand Schmalz‘ Roman seine Freude haben. Dem Werk ist ein gewisser Charme nicht abzusprechen. Aber man sei gewarnt: Als leichte Lektüre für zwischendurch in der U-Bahn ist es nicht geeignet. 

Tipp: Wer sich für die szenische Umsetzung der Geschichte Mein Lieblingstier heißt Winter interessiert, kann sich auf die Uraufführung im Frankfurter Schauspielhaus am 24. März 2023 freuen. 

Bühne und Umwelt

Theater als Spiegel unserer Beziehung zur Natur

Die desaströse Schieflage eines zunehmend instabilen Klimas, in die sich die Menschheit hineinmanövriert hat, ist spürbar auf der ganzen Welt: Unkontrollierbare Waldbrände, historische Hitzewellen und tödliche Überschwemmungen zeigen die erschütternden Folgen. Die Natur schlägt zurück – und mit ihr wächst der Zorn vieler Menschen, die sich ihrer verletzlichen Beziehung zur Umwelt noch bewusst sind. Sie sind wütend über ein Gesellschaftssystem, das auf einer grenzen- und rücksichtslosen Ausbeutung der Natur basiert. Andere resignieren vor der akuten Bedrohung ihrer eigenen Lebensgrundlage und der Ohnmacht des Individuums. 

Über Jahrhunderte hinweg hat der Mensch seine Identität im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur gefunden. Mitunter wurde die Kultur als Fortsetzung der Natur verstanden, dann wieder als ihr Gegenpol und Mittel, um sie zu beherrschen. Doch in jedem Fall war der Mensch stets Teil beider Welten – der natürlichen ebenso wie der kulturellen. 

Das Theater sieht sich in diesen Tagen mit neuen und alten Fragen konfrontiert: Wie treten wir der Resignation im Angesicht der Klimakatastrophe entgegen? Wie kann man Aktivismus auf der Bühne zeigen und auch in seinen eigenen Strukturen vorleben? Wie stellen wir aus unserer menschlichen Sicht Empathie für unsere Umwelt auf der Bühne dar? Wie rückt man den Menschen aus dem Zentrum der Erzählung? 
Wo die Grenzen der Darstellbarkeit liegen, muss das Theater in jeder Inszenierung neu verhandeln, doch die Natur als Akteur auf der Bühne zu zeigen, ist schwieriger und – im Angesicht der Weltgeschehnisse – aktueller denn je. Wie viel darf man der Natur von unseren Empfindungen und Gedanken überstülpen?

Auch in Oldenburg – einer grünen Stadt mit den Bornhorster Wiesen, der Wallheckenlandschaft und der Haarenniederung – beschäftigt die Theatermachenden diese Problematik. In der Spielzeit 24/25 versucht sich das Theater, diesen und weiteren Fragen zu nähern. In der Uraufführung des Stücks Wald von Miriam V. Lesch am 28.09., erheben sich Stimmen von Bäumen, Pilzen und Tieren, die nach einem bestärkten „Wir“ rufen. Ein politisch-ökologischer Körper, der sich als symbiotisch-kooperativer Akteur versteht und dabei aus dem Hintergrund in die absolute Sichtbarkeit rückt. Der Wald beginnt, sich die Welt zurückzuerobern, und Buche, Steinpilz, Fichte, Butterpilz, Birke und Röhrling stehen dafür auf der Bühne und zersetzen, zerkleinern, filtern und transportieren. Sie erzählen den Zuschauenden die komplexen Abläufe, die in ihnen vorgehen, Tag für Tag und Minute für Minute.

Und auch wenn wir auf der Bühne die Bedürfnisse der Natur lediglich thematisieren können, gibt dies dennoch Denkanstöße, sich zu fragen: Was würde meine Topfpflanze wollen? Würde sie wollen, dass ich sie regelmäßig gieße? Würde sie einen Platz im Garten fordern? Oder würde sie gleich die Entsiegelung der Straße neben dem Garten verlangen, um ungestört wachsen zu können? Es ist sinnvoll, sich diesen Fragen zu stellen, wenn Kultur und Natur ein gemeinsames Bild zeichnen sollen, und wir uns – wenn auch nur um einen Schritt – der Natur annähern und für ihre Bedürfnisse sensibilisieren wollen.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. September 2024/25. (06.09.2024).

Ein Plädoyer fürs Briefeschreiben 

Ein neues Kalenderjahr ist angebrochen und damit die Zeit der guten Vorsätze, die man sich still und heimlich oder auch laut und fordernd setzt. Ob sie gehalten oder verworfen werden, steht jetzt noch in den Sternen. Auch wenn ich nicht von dem Konzept der »guten Vorsätze« überzeugt bin – nicht, weil ich nichts von Ambitionen, Zielen oder Selbstoptimierung halte, sondern weil man sich gute Vorsätze in jedem Jahr zu jeder Zeit setzen kann – will ich einen Vorschlag in den Raum stellen: In diesem Jahr wieder mehr Briefe zu schreiben. Denn meiner Meinung nach fristet der private Brief, der seit der Antike ein essenzieller Teil der Schreibkultur ist, heutzutage immer mehr ein Schattendasein. 

Heute gibt es für den privaten Austausch Smartphones, Mails, Videoanrufe. Dauerhafte Erreichbarkeit ist gewährleistet und soll es auch sein. Immer, überall, kostengünstig und schnell wollen wir unsere Mitmenschen erreichen. Effektiv und flüchtig bleiben wir in Kontakt mit anderen. Vielleicht fasziniert mich auch deshalb die Form des Briefes.

Denn ohne Briefe, hätten meine Eltern und Großeltern und Urgroßeltern und viele Generationen davor ihre Beziehungen über weite Distanz nicht aufrechterhalten können und hätten vielleicht andere Lebenswege eingeschlagen. Der Austausch von Wissen über Landesgrenzen hinweg hätte ohne Briefe nicht stattfinden können. Wissenschaftliche Entdeckungen wie die von Isaac Newton oder Charles Darwin wurden oft in Briefen dokumentiert und diskutiert. Soldaten im Krieg schrieben an ihre Familien und hielten so die Verbindung nach Hause, ohne diese Möglichkeit des Austauschs wären oft Trost und Hoffnung ausgeblieben.

Der Brief liegt in seiner Form zwischen Monolog, Gespräch, Alltagskommunikation, Literatur, Kulturkritik und philosophischer Reflexion. Außerdem ist er ein emanzipatorisches Medium: Im 18. Jahrhundert begann der Brief für Frauen als Möglichkeit der Kommunikation sowie Diskursteilnahme zugänglich zu werden und veränderte ihre Lebensrealität nachhaltig. Infolge der Alphabetisierung breiter Bevölkerungsschichten in Mitteleuropa im 18. Jahrhundert und dem Bestreben nach weiblicher Bildung entwickelte sich eine starke weiblich geprägte Briefkultur. Weil das Medium Brief Freiraum für Selbstbestimmung und Selbstreflektion in sich vereint, war es eine Errungenschaft und ein Gewinn für die weibliche Emanzipation. So singen auch die Figuren in der musikalischen Komödie »Stolz und Vorurteil* (*oder so)« von Isobel McArthur nach Jane Austen über das Schreiben und lesen ihre Briefe an ihre Schwestern, um ihr Liebesleben und die schwierigen Beziehungsgeflechte zu besprechen. 

Worauf ich hinaus will? Briefe sind bleibend – selbst heute noch stößt man in Archiven oder auf Dachböden auf alte Briefe, die Einblicke in vergangene Zeiten gewähren. Ohne sie wären viele Details des Alltags und der Gedankenwelt vergangener Generationen verloren. Daher mein Plädoyer, trotz steigender Portopreise und fehlender Zeit im Alltagsstress: Schreibt doch mal wieder einen Brief. Nehmt euch Zeit, Worte zu wählen, die bleiben. Denn einen schönen Brief zu bekommen, macht glücklich und vielleicht landet euer Brief eines Tages auf einem Dachboden und erzählt noch in Jahrzehnten eine Geschichte, die kein Chatverlauf jemals bewahren könnte.

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Januar 2024/25. (04.01.2025)

Advent, Glühwein und Artikel 1

Der Dezember und die Verantwortung für die Menschenrechte

Verkaufsstände, Tannengrün, Feststimmung: Auf den Straßen und Plätzen der Oldenburger Innenstadt stehen die Weihnachtsmarktbuden und es duftet nach Glühwein, Lángos und gebrannten Mandeln. Die Schaufenster sind mit Lichtern, Sternen und Weihnachtsbaumkugeln dekoriert, ein dickbäuchiger Weihnachtsmann steht auf dem Schlossplatz und die Einwohner:innen aus Oldenburg und umzu zieht es zum Geschenkbummel in die Geschäfte. Einhellige Harmonie in der niedersächsischen Stadt. Es ist keine Frage: Wir lassen es uns gut gehen in der Weihnachtszeit. Es ist die Familienzeit des Jahres. Wir kuscheln uns ein, gehen ins Theater und belohnen uns für ein Jahr, das wir bald hinter uns lassen werden. Was erwartet uns noch im Dezember? Was könnte wichtiger sein als der Weihnachtstrubel?  

Ein Tag, der aus diesem Monat gleichermaßen heraussticht und in ihm untergeht ist der 10. Dezember. An diesem Tag jährt sich die Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Am 10. Dezember 1948 von den Vereinten Nationen beschlossen, ist sie ein grundlegender Meilenstein für die weltweite Anerkennung von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. Was bedeuten Menschenrechte heute, in einer globalisierten und kapitalistischen Welt, in der der Respekt vor der Würde des Menschen oft auf dem Prüfstand steht?

Die Erklärung hat 30 Artikel in denen politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte sowie Bürgerrechte festgelegt sind. Grundlage der Erklärung ist die Feststellung, dass alle Menschen, unabhängig von Rasse, Geschlecht oder Religion „frei und gleich an Würde und Rechten geboren“ sind. 

Der Dezember ist ein Monat, den man besonders genießen kann, wenn man das Glück hat, in einer privilegierten Situation zu sein. Jeden Tag unser Adventskalendertürchen öffnen, während andere nicht wissen, wie sie den nächsten Tag überstehen sollen. In unserem Alltag ist es leicht zu vergessen, dass Chancengleichheit und Menschenrechte für jeden – in unserer Gesellschaft wie auf der gesamten Welt – wichtige und schöne Konzepte, aber nicht Lebensrealität sind. 

Wie können wir diesem Tag gerecht werden? Während wir es uns in der winterlichen Gemütlichkeit gut gehen lassen, wäre es ein Zeichen der Solidarität, uns bewusst zu machen, dass Menschenrechte keine abstrakten Prinzipien, sondern reale Ansprüche sind – Ansprüche, die täglich verteidigt und verwirklicht werden müssen. Inmitten des weihnachtlichen Lichterglanzes können wir uns fragen: Was kann ich persönlich tun, um diese Werte zu leben?

Vielleicht liegt die Antwort darin, über den Tellerrand zu schauen, aktiv zu werden und praktische Solidarität zu leben. Es geht nicht darum, auf festliche Freuden zu verzichten, sondern darum, an die zu denken, die diese Möglichkeiten nicht haben und aktiv zu werden. Denn am Ende sind Menschenrechte kein einmaliges Geschenk – sie sind eine Verpflichtung, die wir jeden Tag neu annehmen müssen.

Wer sich dafür interessiert, wie man praktische Solidarität im Alltag leben kann, kann sich bei der Veranstaltung der Gruppe »Solidarisch in der Migrationsgesellschaft« am 31.01.2025 in der Exhalle informieren. 

Veröffentlicht: Oldenburgisches Staatstheater. Theaterzeitung. Dezember 2024/25. (06.12.2024).